Eine der wichtigsten einschneidenden Massnahmen der neuen Bundesrechtspflege, die 2007 in Kraft trat, war die Beschränkung der Kognition des obersten Sozialversicherungsgerichts. Dieser «massive Justizabbau am Bundesgericht» (plädoyer 4/01) stiess auf heftigen Widerstand.
Obwohl die Verfahren für Betroffene oft existenziell sind - etwa bei der Festlegung von Invalidenrenten -, trifft damit eine einzige kantonale Gerichtsinstanz ohne Beschwerdemöglichkeit sämtliche Sachverhalts- und Ermessensentscheide. Dass das Urteil häufig ohne Verhandlung nach einem einfachen Schriftenwechsel fällt und im Zivil- und Strafrecht weiterhin zwei kantonale Instanzen einen Sachverhalt prüfen können, macht den Abbau des Rechtsschutzes im Sozialversicherungsrecht augenfällig.
Doch im Hinblick auf die versprochene Entlastung winkte das Parlament die Einschränkung durch und führte zwecks Abschreckung potenzieller Beschwerdeführer zugleich Gerichtsgebühren für die zuvor kostenlosen sozialversicherungsrechtlichen Verfahren ein.
Auch die allgemeine Hürde der Streitwertgrenze wurde angehoben, wenn auch etwas weniger rigoros, als es der Bundesrat vorgeschlagen hatte. Sie stieg von 8000 auf 30?000 Franken - bei miet- und arbeitsrechtlichen Streitigkeiten auf 15?000 Franken - an.
Arbeitslast gleichgeblieben oder gar erhöht
Es war ein dreifacher Schlag ins Wasser. Eine Entlastung durch die höheren Streitwertgrenzen sei «nicht erkennbar», stellt jetzt eine wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft unter der Leitung von Professor Andreas Lienhard von der Universität Bern zuhanden des Bundesrats fest. In ihrem 258 Seiten starken «Zwischenbericht der Evaluationsphase 1» stützt sie sich unter anderem auf die Aussagen von Richtern und Gerichtsschreiberinnen. 60 Prozent von ihnen stellten keine Entlastung fest und gaben an, ihre Arbeitslast sei gleich geblieben oder habe sich durch die höheren Streitwertgrenzen gar noch erhöht.
Noch schlechter schneiden die Massnahmen im Sozialversicherungsrecht ab. 69 Prozent der befragten Bundesrichterinnen und Gerichtsschreiber verneinten eine Entlastungswirkung durch die eingeschränkte Kognition, bei der neuen Kostenpflicht beträgt der Anteil gar 79 Prozent.
Warum? Offenbar lösen die Anwälte das Problem der beschränkten Kognition, indem sie in praktisch jeder Beschwerde eine willkürliche und rechtsverletzende Würdigung des Sachverhalts durch die Vorinstanz rügen.
Dann müssen die Richter die Sach- und Rechtsfragen gemäss Artikel 97 des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) abgrenzen, was oft aufwendig ist. Die neue Kostenpflicht beschert ebenfalls Mehraufwand, weil die sozialrechtliche Abteilung nun oft neu einen Antrag auf unentgeltliche Prozessführung prüfen muss.
Der Bundesrat findet trotzdem, die Neuordnung der Bundesrechtspflege habe sich nach den vorläufigen Erkenntnissen «grundsätzlich bewährt». Zwar sei etwa bei der Einschränkung der Kognition im Sozialversicherungsrecht «eine geringere Entlastungswirkung ausgelöst worden» als erwartet, räumt er ein. Entlastend hätten in erster Linie die geänderte Gerichtsorganisation beim Bundesgericht und die Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts gewirkt. Der Bundesrat sieht bis zur Schlussevaluation im Jahr 2013 aber «keinen dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf».
Abhilfe beim Sorgenpunkt Ausnahmekatalog
Das Bundesgericht hat zum Bericht Stellung genommen, geht darin aber auf die fehlende Entlastungswirkung der Revision nicht ein. Es formuliert ein anderes Anliegen: Die Rechtseinheit und Rechtsfortbildung könne heute nur ungenügend gewährleistet werden. Denn wichtige Rechtsgebiete seien gänzlich von einer Überprüfung durch das Bundesgericht ausgenommen. Der Ausnahmekatalog von Artikel 83 BGG listet die öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten auf, bei denen eine Beschwerde ausgeschlossen ist.
Die Liste ist lang und reicht von der Milchkontingentierung über Entscheide zu öffentlichen Kaufangeboten gemäss Börsengesetz bis zur internationalen Amtshilfe. Darunter seien Rechtsgebiete, die «wesentliche Landesinteressen berühren und teilweise grosse Tragweite haben», wie Bundesgerichtspräsident Lorenz Meier auf Anfrage ausführt. Als Beispiele nennt er «die kürzlichen Amtshilfeentscheide in Sachen UBS/USA».
Die Politik hat das Problem erkannt. Während «jede Bagatellbusse ans Bundesgericht weitergezogen werden kann», sei der Gang nach Lausanne beispielsweise im Telekommunikationsbereich nur beschränkt möglich, obwohl dort Hunderte von Millionen Franken auf dem Spiel stünden, kritisiert der Baselbieter SP-Ständerat Claude Janiak.
Bundesgericht soll von sich aus Fälle aufgreifen
Mit einer Motion fordert er eine Ergänzung von Artikel 83 BGG, damit das Bundesgericht künftig von sich aus einen öffentlich-rechtlichen Fall aufgreifen kann, den das Bundesverwaltungsgericht beurteilt hat, «wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder wenn es sich aus anderen Gründen um einen besonders bedeutenden Fall handelt». Bundesrat und das Bundesgericht unterstützen den Vorstoss.
Zwischenevaluation
Sind die Ziele der Totalrevision der Bundesrechtspflege von 2007 erreicht worden? Neben der umfangreichen Wirkungsanalyse (Projektleitung Professor Andreas Lienhard, Bern) erstellten die Professoren Felix Uhlmann, Giovanni Biaggini und Andreas Auer eine Studie über allfällige Rechtsschutzlücken. Die zweite Phase mit neuen Befragungen, Datenanalysen und einer Urteilsanalyse ist bereits angelaufen. 2013 will der Bundesrat einen Schlussbericht vorlegen.