Zivilprozess
Fragepflicht des Richters: nötige Ergänzungen Klar bezeichnen
Die richterliche Fragepflicht erfordert, dass den Parteien klare Hinweise gegeben werden, welche konkreten Vorbringen zu substanziieren sind.
Sachverhalt:
Eine Bank hatte einer Firma einen Kredit zur Finanzierung eines Liegenschaftenkaufs gegeben. Als die Verhandlungen über eine Neuordnung des Kreditverhältnisses nach einigen Jahren scheiterten, kündigte die Bank den Kredit und verlangte die Rückzahlung der Schuld. Die Firma bestritt die Fälligkeit der Ausstände und erhob Rechtsvorschlag gegen die Betreibung. Gegen die Rechtsöffnung führte sie eine Aberkennungsklage.
Das Zürcher Handelsgericht führte nach dem ersten Schriftenwechsel eine Referentenaudienz durch, bei der erfolglos Vergleichsgespräche geführt wurden. Nach dem zweiten Schriftenwechsel wies das Gericht die Klage ohne Durchführung des Beweisverfahrens ab und erteilte definitive Rechtsöffnung.
Die Firma legte mit Erfolg Nichtigkeitsbeschwerde ein. Sie hatte vor Handelsgericht geltend gemacht, die Kündigung der Hypothek sei nichtig, da vereinbart worden sei, dass die Hypothek nicht gekündigt werde, solange die Firma ihren Verpflichtungen nachkomme. Das Handelsgericht hatte die Ausführungen zum behaupteten Stillhalteabkommen als zu wenig substanziiert bezeichnet, weshalb kein Beweisverfahren durchgeführt werden könne.
Aus den Erwägungen:
2c) aa) Gemäss § 55 ZPO ist einer Partei, deren Vorbringen unklar, unvollständig oder unbestimmt bleibt, Gelegenheit zur Behebung des Mangels zu geben, insbesondere durch richterliche Befragung. Wie aus der Formulierung dieser Vorschrift («bleibt das Vorbringen [...]»), deren Anwendungsbereich sich auch auf das schriftliche Verfahren erstreckt (Frank/Sträuli/Messmer, a. a. O., N 1 [und 10] zu § 55 ZPO; Walder-Richli, Zivilprozessrecht, 4. A., Zürich 1996, § 17 Rz 13; Lieber, a. a. O., S. 180) und die grundsätzlich nicht danach unterscheidet, ob die betreffende Partei rechts(un)kundig oder anwaltlich vertreten ist (vgl. Lieber, a. a. O., S 168 [m. w. H.] und 182; Vogel/Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts, 7. A., Bern 2002, Kap. 6 Rz 39 1991 Nr. 38; Brönnimann, die Behauptungs- und Substanziierungslast im schweizerischen Zivilprozessrecht, Bern 1989, S. 70; differenzierter Sarbach, Die richterliche Aufklärungs- und Fragepflicht im schweizerischen Zivilprozessrecht, Bern 2003, S. 137 ff.), entbindet die Fragepflicht die Parteien nicht von ihrer prozessualen Obliegenheit, dem Gericht das Tatsächliche des Rechtsstreits darzulegen (§ 54 Abs. 1 ZPO) und die betreffenden Behauptungen in ihren Parteivorträgen bestimmt (d. h. genügend substanziiert) und vollständig aufzustellen (§ 113 ZPO).
Auch wenn die richterliche Fragepflicht primär der Sammlung des Prozessstoffes in tatsächlicher Hinsicht dient (Lieber, a. a. O., S. 163 f.; einlässlich zur Funktion der richterlichen Fragepflicht Sarbach, a. a. O., S. 55 ff., 142 f.) erfüllt sie mithin insbesondere nicht den Zweck, der betreffenden Partei zu ermöglichen, zwar entscheidwesentliche, aber – aus welchen Gründen auch immer – in den Parteivorträgen nicht aufgestellte Behauptungen nachträglich noch in den Prozess einzuführen. Vielmehr greift die Fragepflicht nur hinsichtlich des bereits Vorgebrachten, sofern dasselbe unklar, unvollständig oder unbestimmt bleibt.
Sie setzt mit anderen Worten voraus, dass zumindest der – prozessual rechtzeitig eingebrachte – Ansatz zu einer auf den Prozess gerichteten (Tatsachen-) Behauptung oder Erklärung vorliegt, das heisst dass ein bestimmter Sachverhalt von einer Partei zumindest andeutungsweise oder in rudimentärer Form behauptet wird und lediglich in gewissen Richtungen erkennbarerweise der Vervollständigung bedarf (Lieber, a. a. O., S. 165 f., 167 f.; Frank/Sträuli/Messmer, a. a. O., N 2 und 3 zu § 55 ZPO; Brönnimann, a. a. O., S. 68 f.; RB 1980 Nr. 13; eingehend ferner Sarbach, a. a. O., S. 145 ff. [und 189]).
Insofern stellt sie eine im Interesse der Wahrheitsfindung notwendige Ergänzung der Verhandlungsmaxime dar, die insbesondere dann greift, wenn das von den Parteien vorgetragene Tatsachenfundament (unbeabsichtigt und ungewollt) den Anforderungen an eine gehörige Substanziierung nicht genügt (Lieber, a. a. O., S. 173; Frank/Sträuli/Messmer, a. a. O., N 14 zu § 113 ZPO; ausführlich dazu Sarbach, a. a. O., S. 187 ff.; siehe auch Brönnimann, a. a. O., S. 72 und 74, unter Hinweis auf Fischli, Richterliche Fragepflicht, BJM 1954, S. 93 f., wonach die richterliche Hilfe den Parteien ersparen soll, «in den Urteilsmotiven den Satz zu lesen, ein für sie günstiger rechtlicher Gesichtspunkt entfalle schon deswegen, weil es an der Behauptung [...] für eine dafür erforderliche Tatsache fehle»; vgl. zu Letzterem auch Sarbach, a. a. O., S. 93/94 [und 192/193], der aus dem bundesrechtlich gewährleisteten Klagerecht und dem Recht auf Beweis ableitet, dass ohne vorgängigen richterlichen Hinweis keine Abweisung wegen mangelnder Substanziierung erfolgen dürfe).
Sie geht jedoch keineswegs so weit, dass das Gericht die Parteien auf den für die Urteilsfällung wesentlichen Sachverhalt hinzuweisen hätte (siehe auch Frank/Sträuli/Messmer, a. a. O., N 2 zu § 55 ZPO). Im Einzelnen richtet sich ihr – nach dem Gesagten letztlich durch den Willen der befragten Partei begrenzter – Umfang nach dem Gebot von Treu und Glauben, und sie kann gemildert sein, wenn sich eine Partei aufgrund des vorangehenden Prozessverlaufs über ihre prozessualen Obliegenheiten hinreichend im Klaren sein muss (Lieber, a. a. O., S. 168; Sarbach, a. a. O., S. 151). Zudem reicht eine einmalige richterliche Aufforderung zur Ergänzung eines unklar gebliebenen Vorbringens unter dem Gesichtspunkt von 155 ZPO in aller Regel aus (Brönnimann, a. a. O., S. 70; Walder-Richli, a. a. O., § 17 Rz 17).
bb) Aus diesen Grundsätzen ergibt sich, dass die Fragepflicht, die in jedem Stadium des Verfahrens ausgeübt werden kann und gegebenenfalls auch ausgeübt werden muss (vgl. Lieber, a. a. O., S. 183; Sarbach, a. a. O., S. 160/161; Brönnimann, a. a. O., S. 69), sich auf konkrete (unklare, unvollständige oder unbestimmte) Vorbringen einer Partei beziehen, das heisst an ein bestimmtes Parteivorbringen anknüpfen muss.
Mit einem bloss allgemeinen und abstrakten Hinweis auf ungenügende Substanziierung genügt der Richter der Fragepflicht nach § 55 ZPO also regelmässig nicht. Ein solcher vermag eine eigentliche Befragung der Partei seitens des Gerichts nur dann zu erübrigen, wenn dieser (oder ihrem Vertreter) dadurch aufgezeigt wird, welche konkreten Vorbringen inwiefern zu vervollständigen sind (Lieber, a. a. O., S. 173; Sarbach, a. a. O., S 190; Kass.-Nr. 220/87 vom 28. 10. 1988 i. S. K. c. B., Erw. 3/b; 325/87 vom 5. Dezember 1988 i. S. S. c. A., Erw. 3/a). Andernfalls muss der Richter der betreffenden «Partei – gegebenenfalls durch Stellung konkreter Fragen – klar zu erkennen geben, welche Vorbringen in welcher Hinsicht zu vervollständigen sind», wobei die Fragen «an bereits artikulierte Parteivorbringen angeknüpft werden» müssen (Lieber, a. a. O., S. 183; ebenso Sarbach, a. a. O., S. 152; siehe auch Frank/Sträuli/Messmer, a. a. O., N 10 zu 1 55 ZPO, wonach die Fragepflicht «unter genauer Angabe des Mangels» wahrzunehmen sei).
Aus dem Erfordernis der Anknüpfung an konkrete Parteivorbringen folgt selbstredend, dass sich der richterlichen Fragepflicht grundsätzlich nicht – gleichsam antizipiert – dadurch Genüge tun lässt, dass die Parteien – möglicherweise noch bevor sie überhaupt (einzelne, gestützt auf § 55 ZPO zu ergänzende) unklare, unvollständige oder unbestimmte Behauptungen vorgetragen haben – vom Richter im Verlaufe des Prozesses (sozusagen im Sinne einer allgemeinen Rechtsbelehrung) in genereller Weise und ohne jedwelche konkrete Bezugnahme auf ihre Vorbringen auf die Anforderungen an eine gehörige Substanziierung ihrer (auch künftigen) Vorbringen und die Folgen ungenügender Substanziierung hingewiesen werden.
Die Zulassung eines solchen Vorgehens würde nämlich die Gefahr schaffen und könnte faktisch dazu führen, dass sich der Richter der ihm vom Gesetz auferlegten Fragepflicht gleichsam im Voraus durch Abgabe allgemeiner Substanziierungshinweise entledigt, wodurch § 55 ZPO nicht nur seines eigentlichen Sinns entleert, sondern auch seiner Funktion (richterliche Hilfestellung zur Klärung unklar, unvollständig oder unbestimmt gebliebener Vorbringen zur Vermeidung prozessual bedingter Rechtsverwirkung oder zur Wahrheitsfindung im Dienste der Verwirklichung des materiellen Rechts) weit gehend beraubt würde.
d) In casu fand nach den beiden ersten Parteivorträgen (Klage- und Klageantwortschrift) zwar eine Referentenaudienz statt, anlässlich welcher den Parteien die Voraussetzungen genügender Substanziierung der tatsächlichen Vorbringen in allgemeiner Weise erörtert wurde. Dabei wurden sie insbesondere darauf hingewiesen, dass allgemeine und summarische Behauptungen nicht genügen und «Gespräche, geäusserte Willenserklärungen, innere Vorstellungen, Mahnungen, Gestaltungsgeschäfte, Handlungen, erbrachte Leistungen sowie Geschehnisse konkret darzulegen und im Einzelnen zu schildern» seien, wobei «die handelnden natürlichen Personen mit Namen, Vertragsinhalte, Handlungen, Ort und Zeit genau und detailliert anzugeben» seien. Diese Hinweise erfolgten jedoch ohne spezifischen Bezug auf konkrete Vorbringen, sondern im Sinne (bloss) allgemeiner Substanziierungshinweise (so auch die Überschrift im vorinstanzlichen Protokoll). Lediglich hinsichtlich eines einzigen konkreten Vorbringens [...] erfolgte eine themenspezifische, an die Beschwerdegegnerin gerichtete Aufforderung zur detaillierteren Stellungnahme. Weitere richterliche Rückfragen oder Substanziierungsaufforderungen sind nicht aktenkundig und werden im angefochtenen Urteil auch nicht erwähnt; insbesondere geht aus den Akten auch nicht hervor, dass der Beschwerdeführerin je konkret vorgehalten wurde, dass (und inwiefern) ihre Vorbringen den Anforderungen an eine gehörige Substanziierung nicht zu genügen vermöchten.
Die Beschwerdeführerin hat die von der Vorinstanz für zu wenig substanziiert erachtete Behauptung, wonach die Parteien eine Stillhalteabrede getroffen hätten, erstmals in ihrer Replik und damit nach besagter Referentenaudienz erhoben. Somit konnten die den Parteien zuvor gegebenen allgemeinen Substanziierungshinweise von vornherein keinen konkreten Bezug zu dieser damals noch gar nicht vorgetragenen, nach vorinstanzlicher Auffassung zu unbestimmt gebliebenen Behauptung haben; dies umso weniger, als die Vorinstanz der Beschwerdeführerin bis zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen konkreten Vorhalt ungenügender Substanziierung ihrer Vorbringen gemacht, sondern ihr bloss in allgemeiner Weise die Erfordernisse genügender Substanziirung von Tatsachenbehauptungen dargelegt hatte. Dementsprechend konnte der – nicht von einem Rechtsanwalt oder anderweitig rechtskundig, sondern von ihrem (juristisch offensichtlich nicht besonders versierten) Geschäftsführer vertretenen – Beschwerdeführerin aufgrund des bisherigen Verfahrensgangs auch nicht ohne weiteres klar sein, dass ihre Vorbringen betreffend Stillhalteabkommen zu unbestimmt seien und deshalb noch der Vervollständigung bedürften.
Auch bestand keinerlei Anlass zur (vor allem bei Laien ohnehin nur mit grosser Zurückhaltung zu treffenden) Annahme, dass die Beschwerdeführerin zu diesem Punkt bewusst keine detaillierteren Behauptungen vorgetragen (was eine richterliche Rückfrage erübrigt hätte; vgl. Lieber, a. a. O., S. 167; Frank/Sträuli/Messmer, a. a. O., N 3 a. E. zu § 55 ZPO; Brönnimann, a. a. O., S. 73; Sarbach, a. a. O., S. 148 f. [und 191]); vielmehr liess die (eher laienhafte) Ausgestaltung ihrer Eingaben darauf schliessen, dass eine nähere Konkretisierung der fraglichen Behauptung allein aus prozessualer Ungewandtheit ihres Vertreters unterlassen wurde.
Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz nicht einfach unter Hinweis auf die bereits erfolgten allgemeinen Substanziierungshinweise von der (gegenüber der Beschwerdeführerin erstmaligen und mithin eigentlichen) Ausübung der richterlichen Fragepflicht absehen und den – zumindest im Ansatz artikulierten und damit (im Sinne von § 55 ZPO) unvollständig und unbestimmt gebliebenen – klägerischen Einwand des Zustandekommens einer Stillhaltevereinbarung mangels genügender Substanziierung verwerfen. Im Lichte der vorstehend dargelegten Grundsätze wäre sie vielmehr verpflichtet gewesen, die Beschwerdeführerin in Anwendung von § 55 ZPO (konkret) darauf aufmerksam zu machen, dass dieses (keineswegs abwegige, sondern für die Entscheidfindung zentrale) Vorbringen zu unbestimmt sei, um berücksichtigt werden zu können, und sie hätte der Beschwerdeführerin (wenigstens einmal) Gelegenheit geben müssen, die betreffende (Rechts-)Behauptung zu ergänzen und deren Tatsachenfundament näher zu substanziieren.
Wenn sie darauf verzichtet und statt dessen der Beschwerdeführerin ohne vorgängigen Vorhalt und sachbezogene Nachfrage ungenügende Substanziierung dieser Behauptungen zur Last gelegt hat, liegt darin eine Verletzung der richterlichen Fragepflicht und damit der Nichtigkeitsgrund gemäss § 281 Ziff. 1 ZPO. Diesbezüglich erweist sich die Beschwerde als begründet.
(Kassationsgericht des Kantons Zürich, Beschluss vom 5. Juli 2004)
Arbeitsrecht
Konsultation bei Massenentlassungen: "Konsultation muss sofort stattfinden"
Beabsichtigt ein Arbeitgeber eine Massenentlassung und informiert er die Betroffenen erst nach 20 Tagen, so verletzt dies die Konsultationsvorschriften.
Sachverhalt:
Ein Berner Medienunternehmen beschloss am 24. Januar 2004 die Kündigung von 60 Angestellten, wobei knapp die Hälfte bei einer anderen Firma des Unternehmens weiterbeschäftigt werden sollte. Am 13. Februar wurde bei einer Betriebsversammlung informiert, es gingen rund 30 Stellen verloren und rund 20 Mitarbeitenden sowie den Lehrlingen würde eine Weiterbeschäftigung angeboten. Anschliessend wurde eine Konsultationsfrist angesetzt bis 24. Februar.
Die Gewerkschaft comedia klagte auf Feststellung, dass die Bestimmungen über Massenentlassungen verletzt worden seien und dass die Mitwirkungsrechte beim Betriebsübergang verletzt seien. Das Urteil heisst die Verbandsklage gut.
Aus den Erwägungen:
Aktivlegitimation
22. Die Beklagte macht geltend, die Klägerin sei nicht aktivlegitimiert, weil es an der mitgliedschaftlichen Bindung mit den beteiligten Arbeitnehmern der Beklagten fehle. In der Tat ist vorab als grundsätzliches Element des materiellen Anspruchs die Aktivlegitimation der Klägerin gestützt auf Art. 15 Abs. 2 Mitwirkungsgesetz zu prüfen.
Gemäss Art. 15 Abs. 2 Mitwirkungsgesetz besteht ein Klagerecht der beteiligten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer «sowie deren Verbände». Das Mitwirkungsgesetz kennt keine Definition dieser Verbände. Die Einräumung des Verbandsklagerechts wird mit der Kontrollfunktion der Verbände begründet, bzw. ist diese Kontrollfunktion auf die Feststellungsklage beschränkt und setzt eine mitgliedschaftliche Bindung mit den beteiligten Arbeitnehmern voraus (vgl. Fritz, Das Mitwirkungsgesetz, Zürich 1994, ad Art. 15 Abs. 2). Die mitgliedschaftliche Bindung wird in der Lehre nicht quantifiziert (vgl. Fritz, a. a. O.; Ilg, Kommentar über das Bundesgesetz über die Information der Arbeitnehmer in den Betrieben, Zürich 1999, S. 98 f.).
Auch das Bundesgericht hat sich zur mitgliedschaftlichen Bindung nicht geäussert. Es hat in BGE 123 III 177 «die Klageberechtigung» einer Gewerkschaft gestützt auf Art. 15 Mitwirkungsgesetz bejaht, nachdem es sich lediglich zu deren Feststellungsinteressen geäussert hatte, nicht aber zu ihrer Verbandsqualität im Sinn der zugrundeliegenden Bestimmung.
Das Bundesgericht hat in Ausfüllung einer Lücke den Berufsverbänden unter folgenden Voraussetzungen ein Klagerecht zugestanden (ausgenommen die Geldforderungen einzelner Verbandsmitglieder): Die Mitglieder müssen zur gleichen Klage legitimiert sein; der Verband hat nach seinen Statuten die wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder wahrzunehmen; mit der Klage werden Interessen der ganzen Berufsgruppe, nicht nur der Verbandsmitglieder wahrgenommen (vgl. Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts, Bern 1997, 7. Kapitel, Rz 92a).
In BGE 114 II 345 (Praxis 78 Nr. 83) hat sich das Bundesgericht mit der Legitimation des SMUV zur Erhebung einer Klage wegen Verletzung von Art. 328 OR oder Art. 28 ZGB auseinander gesetzt. Unter Verweisung auf seine frühere Rechtsprechung in BGE 86 II 18 ist es dabei zum Schluss gekommen, die Aktivlegitimation hänge von den hievor erläuterten Voraussetzungen ab. Es hat in keinem dieser Entscheide die Mindestzahl der klageberechtigten Verbandsmitglieder definiert. In BGE 114 II 345 (E.3c) hat es als erstellt und von der Voraussetzung her als genügend erachtet, dass einige («certains») der betroffenen Mitarbeiter SMUV-Mitglieder und persönlich klageberechtigt waren.
Nebst dem Mitwirkungsgesetz sind auch in verschiedenen anderen Bundesgesetzen Verbandsklagerechte ausdrücklich verankert, so zum Beispiel im Lauterkeitsrecht UWG (vgl. die Aufzählung bei Vogel, a. a. O., 7. Kapitel Rz 92b). Das Verbandsklagerecht einer Gewerkschaft gestützt auf gemäss Art. 10 Abs. 2 lit. a UWG hat das Bundesgericht in BGE 125 III 86 (E.4a) mit Verweis auf BGE 121 III 168 E.3b und 4 bejaht, ohne sich zur Zahl der betroffenen Gewerkschaftsmitglieder zu äussern. In BGE 121 III 168 E4 hat das Bundesgericht zu den Voraussetzungen des Verbandsklagerechts ausgeführt: «Nach Art. 20 Abs. 2 lit. a UWG sind Berufs- und Wirtschaftsverbände, die nach den Statuten zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder befugt sind, zur Erhebung von Klagen nach Art. 9 Abs. 1 und 2 UWG legitimiert.»
Die Ausweitung und Verstärkung der Klagerechte hinsichtlich der Berufs- und Wirtschaftsverbände bildete ein zentrales Anliegen der Revision des Gesetzes vom 19. Dezember 1986. So wurde den Verbänden das Klagerecht direkt eingeräumt und auf dessen altrechtliche Abhängigkeit von der Klagebefugnis der Mitglieder verzichtet; festgehalten wurde bewusst nur am Erfordernis, dass die Verbände gemäss Statuten zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder befugt sind.
Auch der Rechtssprechung zum Verbandsklagerecht nach UWG ist nicht zu entnehmen, dass ein Mindestmass an Repräsentativität eines Berufsverbands vorausgesetzt ist. Allerdings ging es in beiden Fällen aber um die Verletzung bzw. Unzulässigkeit von GAV-Vorschriften. Diese finden nicht nur gegenüber Verbandsmitgliedern, sondern auch gegenüber sich anschliessenden, keinem Verband zugehörigen Mitarbeitenden Anwendung (Rehbinder/Portmann, Basler Kommentar OR I Basel 2003, Art. 357 Rz 18).
Es kann mithin auch nicht davon ausgegangen werden, die Prüfung der Repräsentativität erübrige sich bei Klagen wegen Verletzung oder Rechtswidrigkeit von GAV-Vorschriften, weil eine Repräsentativität bereits für die Anwendbarkeit dieser Vorschriften vorausgesetzt sei. Vielmehr verhält es sich so, dass das Bundesrecht weder für das ungeschriebene noch für die Verbandsklagerechte nach UWG und nach Mitwirkungsgesetz ein Mindestmass an Repräsentativität bzw. mitgliedschaftlicher Bindung voraussetzt. Für das Verbandsklagerecht nach Art. 15 Abs. 2 Mitwirkungsgesetz muss es daher genügen, dass der klagende Verband gemäss seinen Statuten die Wahrung der wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder bezweckt und ein Verbandsmitglied selber klageberechtigt wäre. Damit ist die Verbindung zwischen den «beteiligten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern» und «deren» Verbänden im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Mitwirkungsgesetz bzw. gegeben.
Gemäss den Feststellungen in Ziff. 8 hievor verteidigt und fördert die Klägerin die materiellen Interessen ihrer Mitglieder und setzt sich für die Rechte der Beschäftigten ein. Neben der kollektiven Interessenwahrung bietet sie jedem Mitglied Arbeitsrechtsschutz an. Zu ihrem Organisationsgebiet gehört auch der Druckereibereich. Von der als nicht gesetzeskonform gerügten Massenentlassung waren mindestens zwei ihrer Mitglieder betroffen. Die Klägerin stellt damit einen klageberechtigten Verband im Sinn von Art. 15 Abs. 2 Mitwirkungsgesetz dar.
Die Klägerin beantragt die Feststellung der Verletzung der Bestimmungen von Art. 335d bis 335g OR sowie Art. 333a Abs. 2 CR. Sie beantragt nicht die Feststellung der besonderen Mitwirkungsrechte nach Art. 10 Mitwirkungsgesetz. Mit dieser Bestimmung werden die in den genannten Bestimmungen des OR zugunsten der Arbeitnehmenden statuierten Rechte auf die Arbeitnehmervertretungen im Sinn des 2. Abschnitts des Mitwirkungsgesetzes ausgedehnt. In Art. 4 Mitwirkungsgesetz werden «die Informations- und Mitspracherechte nach den Artikeln 9 und 10 den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern direkt» zugestanden. Somit stellt eine Klage auf Feststellung der Verletzung von Art. 335d bis 335g OR sowie Art 333a Abs. 2 OR in jedem Fall eine Klage nach Mitwirkungsgesetz dar, auch wenn die gerügte Verletzung nicht eine Arbeitnehmervertretung betrifft.
Die Klägerin ist zur Erhebung der vorliegenden Feststellungsklage daher legitimiert.
Mitwirkungsrechte
Konsultation
24. In BGE 123 III 176 hat das Bundesgericht zum Zeitpunkt der Konsultation festgehalten, dass der Arbeitgeber zu deren Einleitung verpflichtet ist, sobald er eine Massenentlassung beabsichtigt, die Konsultation muss stattfinden, bevor der Arbeitgeber den definitiven Entschluss gefasst hat, eine Massenentlassung vorzunehmen bzw. muss sie vor den Kündigungen beendet sein. Weiter hat das Bundesgericht zum Zeitpunkt der Konsultation ausgeführt: «Eine Pflicht zur Konsultation besteht zwar nicht bereits dann, wenn der Arbeitgeber entfernt mit der Möglichkeit rechnet, in der nächsten Zeit zu einer Massenentlassung schreiten zu müssen, wohl aber dann, wenn er sie konkret in Aussicht nimmt. Eine solche konkrete Absicht kann dabei durchaus auch in einem vorbehaltenen Entschluss bestehen. Als beabsichtigt im Sinn von Art. 335f OR hat daher eine Massenentlassung insbesondere auch dann zu gelten, wenn der Arbeitgeber sie zwar nur, aber immerhin für den Fall konkret plant, dass andere Pläne sich nicht verwirklichen lassen» (BGE 123 III 181 E.4b).
Hinsichtlich der Dauer der Konsultation hat es im gleichen Entscheid 24 Stunden als zu kurz, «mindestens vier bis sechs Wochen» aber als erheblich zu lang erachtet und ausgeführt: «Entgegen der Auffassung des Appellationshofs und der Beklagten lässt sich eine Verkürzung der Konsultationsfrist auf einen einzigen Tag auch nicht mit dem Hinweis auf ‹wirtschaftliche Sachzwänge› rechtfertigen. […] Die Beklagte durfte mit der Einleitung der Konsultation nicht zuwarten, bis für ihren Verwaltungsrat die Unumgänglichkeit der Massenentlassung endgültig feststand. Sie hätte vielmehr die Arbeitnehmervertretung oder die Arbeitnehmer bereits vor dem 28. März 1995 konsultieren müssen. Weshalb ihr dies nicht möglich gewesen sein sollte, ist angesichts der Verschwiegenheitspflicht, die Art. 14 des Mitwirkungsgesetzes der Arbeitnehmervertretung und den Arbeitnehmern auferlegt, nicht einzusehen. Die Dringlichkeit, mit der die Beklagte argumentiert, ist somit vor allem darauf zurückzuführen, dass das Konsultationsverfahren zu spät eingeleitet worden ist, und erscheint daher als weit gehend selbstverschuldet.»
In BGE 130 III 102 hat sich das Bundesgericht erneut zum Zeitpunkt und zur Dauer der Konsultation nach Art. 335d OR geäussert. Mit Verweis auf BGE 123 III 180 hat es festgehalten, dass die Konsultation stattfinden müsse, bevor der Arbeitgeber den Entschluss der Massenentlassung definitiv gefällt habe. Im dortigen Fall war erstellt, dass die Konsultation erst fünf Tage nach dem definitiven Entscheid eröffnet worden war, womit die Verspätung bereits gegeben war. Das Bundesgericht hat sich in 130 III 102 auf seine frühere Rechtsprechung berufen und diese nicht etwa korrigiert. Vielmehr bestand in BGE 130 III 102 schlicht keine Veranlassung, näher auf den gesetzlich vorgeschriebenen Konsultationszeitpunkt bzw. auf die bisherige Praxis einzugehen. Mit BGE 130 III 102 hat das Bundesgericht hinsichtlich des Zeitpunkts seine Rechtsprechung nicht geändert.
In Bezug auf die Konsultationsdauer hält das Bundesgericht fest, dass die Zusammenarbeit zwischen den Parteien vom Grundsatz von Treu und Glauben beherrscht sei. Die Arbeitnehmer müssten über die notwendige Zeit verfügen, um die vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Informationen (Art. 335f Abs. 3 OR) zu prüfen, konkrete Vorschläge zu formulieren und diese dem Arbeitgeber zur Kenntnis zu bringen. Die Angemessenheit der Frist hänge von den Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere von der Komplexität der sich stellenden Fragen und von der Dringlichkeit der beabsichtigten Massenentlassung, allerdings könne diese Dringlichkeit eine Verkürzung der Konsultationsfrist nicht rechtfertigen, wenn sie dadurch entstanden sei, dass der Arbeitgeber mit der Konsultation zu spät begonnen habe.
Das Bundesgericht umreisst die verschiedenen Lehrmeinungen, welche Fristen von zwischen 10 bis zu 3 bis 5 Tagen als angemessen erachten, ohne zu diesen Meinungen direkt Stellung zu beziehen. Die konkret zu beurteilende Frist von 5 Tagen über ein Wochenende und auslaufend um 8.00 Uhr am Montagmorgen erachtete das Bundesgericht als ungenügend. Unter anderem deshalb, weil sie zu spät angesetzt worden war und weil sie am Morgen des letzten Tages eines Monats auslief, so dass der Arbeitgeber gerade noch Zeit gehabt hätte, das kantonale Arbeitsamt zu informieren und die Kündigungen auszusprechen, nicht aber um allfällige Mitwirkungseingaben ernsthaft zu prüfen.
25. Im vorliegenden Fall steht fest, dass am 24. Januar 2003 beschlossen wurde, einem Dritten ein Verhandlungsmandat betreffend die Veräusserung einzelner Betriebsteile der Beklagten zu erteilen und hinsichtlich der Betriebseinstellung eine PR-Agentur mir der Kommunikation gegenüber der Belegschaft, den Medien und der Öffentlichkeit zu beauftragen. Am 24. Januar 2003 wurde mithin beschlossen, die Massenentlassung konkret zu planen, wenn auch nur für den Fall, dass sich kein Investor mehr finden lasse und vorbehältlich des Ergebnisses des Konsultationsverfahrens. Dass das beschlussfassende Gremium rechtlich schwer einzuordnen ist, weil es sich aus verschiedenen Vertretern verschiedener Gesellschaften der ganzen Gruppe zusammensetzte, ist unerheblich: Die Sitzung fand unter der Leitung des damals einzigen Verwaltungsrats der Beklagten Z statt, und dieser will den definitiven Entscheid am 24. Februar 2003 allein und ohne förmliche Protokollierung gefasst haben, so dass auch die unter seinem Vorsitz am 24. Januar 2003 gefällten Beschlüsse der Beklagten zuzurechnen sind.
Diese Beschlüsse können im Licht der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht anders gewertet werden, als dass die Beklagte die Massenentlassung im Sinne von Art. 335d OR bereits am 24. Januar 2003 beabsichtigte. Indem die Beklagte die Konsultation erst am 13. Februar 2003 eröffnete, tat sie dies klar zu spät.
26. Die Beklagte räumte ihren Mitarbeitenden am 13. Februar 2003 eine Frist bis 24. Februar 2003 10.00 Uhr ein. Diese rund zehntägige Frist kann nicht von vornherein als zu kurz bezeichnet werden. Sie hätte nach dem hiervor Ausgeführten aber früher angesetzt werden müssen und hätte daher länger sein können. Hinzu kommt, dass die Konsultationsfrist frühestens nach der ausreichenden Informierung der Arbeitnehmer angesetzt werden kann (vgl. Staehelin/Vischer, Der Arbeitsvertrag, Zürcher Kommentar, 1996, Art. 335f OR N 3 in fine). Ausreichende Informierung bedeutet die schriftliche Information gemäss Art. 335f Abs. 3 lit. a bis d sowie weitere, allenfalls mündliche Information über zweckdienliche Punkte (vgl. Staehelin/Vischer, a. a. O., Art. 335f OR N 4). Es bleibt daher zu prüfen, wann nach diesen Massstäben die Konsultationsfrist zu laufen begann.
Information
27. Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmern alle zweckdienlichen Auskünfte erteilen und ihnen auf jeden Fall schriftlich mitteilen: a) die Gründe der Massenentlassung; b) die Zahl der Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll; c) die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer; d) den Zeitraum, in dem die Kündigungen ausgesprochen werden sollen (Art. 335f Abs. 3 OR).
Diese Vorgaben hat die Beklagte nicht vollständig erfüllt. Dass die Kündigungen in ordentlicher Weise Ende Februar erfolgen sollen, ist dem Brief an die Mitarbeitenden zwar zu entnehmen. Hingegen hat die Beklagte weder im persönlich an die einzelnen Mitarbeitenden adressierten Schreiben noch im gleichzeitig abgegebenen Informationsblatt oder in der Pressemitteilung die Zahl in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer aufgeführt.
Die Beklagte hat mithin ihre gesetzliche Informationspflicht nicht vollständig erfüllt. Fraglich ist, ob die entsprechende Vorschrift in jedem Fall derart streng im Sinne von zwingenden Formerfordernissen anzuwenden ist. Immerhin wäre denkbar, dass in einem ähnlich gelagerten Fall die Zahl der auszusprechenden Kündigungen tatsächlich noch nicht mit Sicherheit feststeht. Auch in einem solchen Fall könnten die betroffenen Mitarbeitenden aber im Sinne einer als solchen deklarierten Schätzung oder mit der Angabe einer Höchst- und Mindestzahl genauer informiert werden, als dies die Beklagte getan hat. Überdies steht fest, dass die Beklagte über genauere Informationen verfügte und diese dem Kiga mitteilte, nicht aber den Mitarbeitenden. Sie hat damit die Informationsvorgaben klar verletzt.
(Urteil Z 03 2578 des Gerichtspräsidenten 1 des Gerichtskreises VII Bern-Laupen vom 30. Juni 2004, rechtskräftig)
Ausländerrecht
Schweres Delikt: Im Zweifel für die Ausschaffungshaft
Kann eine Gefährdung nicht ausgeschlossen werden, ist Ausschaffungshaft anzuordnen. Diesen Schluss legt ein neuer, im konkreten Fall aber die Haft ablehnender Bundesgerichtsentscheid nahe.
Sachverhalt:
Ein Türke reiste in die Schweiz ein und stellte 1995 ein Asylgesuch. 1999 wurde er verhaftet, 2002 wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu einer Zuchthausstrafe mit zehnjähriger Landesverweisung verurteilt. 2003 reduzierte das Zürcher Obergericht die Strafe auf sieben Jahre Zuchthaus ohne Landesverweisung, eine Kassationsbeschwerde dagegen ist noch hängig.
Im September 2003 wurde der Mann auf Geheiss des Kassationsgerichts aus dem vorzeitigen Strafvollzug entlassen. Zwei Tage zuvor hatte das Migrationsamt Ausschaffungshaft angeordnet, die am 11. September 2003 vom Haftrichter abgelehnt wurde, worauf sich der Mann ins Ausland absetzte. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement erhob Beschwerde gegen den Haftrichterentscheid. Das Bundesgericht wies diese mit erstaunlicher Begründung ab.
Aus den Erwägungen:
4.1 Demnach setzt der Haftgrund von Art. 13a lit. e ANAG – entgegen der Ansicht des Departements – nicht bloss eine strafrechtliche Verfolgung oder Verurteilung wegen ernsthafter Bedrohung oder Gefährdung von Leib und Leben voraus. Vielmehr kommt es auch darauf an, ob eine Gefährdung künftig nicht ausgeschlossen werden kann, worüber eine Prognose anzustellen ist.
4.2 Es fragt sich aber, welche Anforderungen an die Prognose zu stellen sind. Die Möglichkeiten der zuverlässigen Vorhersage menschlichen Verhaltens allgemein sind relativ begrenzt. Insbesondere haftet der Beurteilung der Gefährlichkeit einer Person ein erhebliches Unsicherheitselement an. Dazu kommt, dass die Prognose bei der Ausschaffungshaft aus einem etwas anderen Blickwinkel erfolgt als diejenige der Straf- und Strafvollzugsbehörden, weshalb nicht einfach deren Beurteilung des künftigen Verhaltens übernommen werden kann.
Diese Behörden verfolgen mit ihren Prognosen zum Teil andere Ziele. Sie stellen auf eine (rein individuelle) Resozialisierung des Straftäters ab und gewähren ihm daher im Rahmen von Art. 41 StGB gegebenenfalls den bedingten Strafvollzug oder entlassen ihn gemäss Art. 38 StGB vorzeitig bedingt aus dem Vollzug. Dabei nehmen sie Risiken für die Gesellschaft in Kauf oder setzen nicht voraus, dass der Verurteilte für die Gesellschaft nicht mehr gefährlich ist. Sie gewähren ihm aber unter bestimmten Rahmenbedingungen, deren Einhaltung kontrolliert wird, die Möglichkeit zur Resozialisierung bzw. sich unter Ansetzung einer Probezeit zu bewähren, wenn hierfür eine vernünftige Chance besteht.
Diese Gedanken stehen beim Haftgrund von Art. 13a lit. e ANAG nicht im Vordergrund. Hier geht es in erster Linie um den Schutz der Bevölkerung und handelt es sich zudem in der Regel um Ausländer, bei denen davon auszugehen ist, dass sie die Schweiz demnächst verlassen müssen, so dass die Wiedereingliederung in die hiesige Gesellschaft ohnehin nicht in Frage steht. Eine Begleitung und Überwachung wie bei bedingten Vollzugsformen scheidet zudem aus. Im Weiteren geht es auch darum, das Asyl- oder Wegweisungsverfahren reibungslos abzuwickeln, wobei der Gesetzgeber damit rechnet, dass derjenige, der Dritte ernsthaft bedroht oder an Leib und Leben erheblich gefährdet hat, sich kaum für die Durchführung des Verfahrens zur Verfügung stellen wird (BBl 19941 322 f.).
4.3 Gestützt auf diese Überlegungen drängt sich im Rahmen von Art. 13a lit. e ANAG auf, nach Begehung ernsthafter Delikte gegen Leib und Leben oder entsprechenden Drohungen davon auszugehen, dass die Gefahr der Verübung weiterer derartiger Delikte besteht, sofern keine Umstände vorliegen, die klarerweise einen anderen Schluss nahe legen. Bei gravierenden Gewaltdelikten brauchen keine vertieften Überlegungen über das künftige Wohlverhalten des Ausländers angestellt zu werden. Vielmehr ist mit Blick auf das Erfordernis rascher Entscheidung und den Schutz der Bevölkerung der Haftgrund von Art. 13a lit. e ANAG als gegeben zu erachten, es sei denn, aufgrund der konkreten Umstände könnten keine ernsthaften Zweifel daran bestehen, dass der Ausländer künftig Leib und Leben von Drittpersonen achten und sich den Behörden für die Durchführung der fremdenpolizeilichen Verfahren zur Verfügung stellen werde.
5. Für seine Prognose hat der Haftrichter auf Überlegungen des Zürcher Obergerichts zur Anordnung oder Nichtanordnung der Nebenstrafe der Landesverweisung, auf Erwägungen des Präsidenten des Kassationsgerichts des Kantons Zürich zur bedingten Entlassung des Beschwerdegegners aus dem vorzeitigen Strafvollzug und auf ein von der Bezirksanwaltschaft Zürich eingeholtes psychiatrisches Gutachten Bezug genommen.
Er ist zum Ergebnis gelangt, aufgrund der konkreten Situation könne nicht angenommen werden, dass der Beschwerdegegner weiterhin Leib und Leben von Personen ernsthaft gefährden werde. Damit hat er eine negative Prognose klar ausgeschlossen. Das Departement hat diese Beurteilung nicht in Zweifel gezogen. Seine Einwände betreffen allein die Grundsatzfrage, ob der Haftgrund von Art. 13a lit. e ANAG bei einem Ausländer, der sich eine schwere Straftat gegen Leib und Leben hat zuschulden kommen lassen, überhaupt eine Prognose über das Risiko weiterer gefährdender Handlungen verlange. Bei dieser Sachlage und auch mit Blick auf den Umstand, dass der Beschwerdegegner nach den Angaben seines Rechtsvertreters die Schweiz nach der Haftentlassung umgehend verlassen hat, hat das Bundesgericht keinen Anlass, weitere Überlegungen zur Prognose im vorliegenden Fall anzustellen. In diesem Punkt muss es mit der Beurteilung durch den Haftrichter sein Bewenden haben.
(Urteil 2A.480/2003/kil des Bundesgerichts, II. Öffentlich-rechtliche Abteilung vom 26. August 2004)
Kommentar:
Das Bundesgericht hatte sich zur Frage zu äussern, ob bei der Anwendung von Art. 13a lit. e ANAG eine Prognose über das künftige Verhalten zu stellen sei. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hatte als beschwerdeführende Partei geltend gemacht, eine strafrechtliche Verfolgung oder Verurteilung wegen eines einschlägigen Delikts reiche aus. Der Beschwerdegegner hatte demgegenüber unter Hinweis auf die bisherige Praxis des Bundesgerichts geltend gemacht, es sei eine Prognose über das künftige Verhalten zu stellen.
Das Bundesgericht folgte unter Hinweis auf seine bisherige Praxis im Grundsatz dem Standpunkt des Beschwerdegegners. Was es dabei zur Begründung aufs Papier brachte, ist jedoch äusserst bedenklich: In Erwägung 4.2 führt es aus, dass «der Beurteilung der Gefährlichkeit einer Person ein erhebliches Unsicherheitselement anhafte». Bei dieser Vorgabe muss es als geradezu unsinnig bezeichnet werden, wenn das Bundesgericht in Erwägung 4.1 für die Zulässigkeit der Ausschaffungshaft eine Prognose verlangt, «ob eine Gefährdung künftig nicht ausgeschlossen werden kann».
Wenn einer Prognose über die künftige Gefährlichkeit naturgemäss eine erhebliche Unsicherheit anhaftet, kann wohl nicht allen Ernstes entscheidend sein, ob eine Gefährdung künftig nicht ausgeschlossen werden könne. Wo Unsicherheit nicht auszuräumen ist, kann keine Sicherheit bestehen. Der von Ausschaffungshaft Bedrohte oder Betroffene müsste also einen unmöglichen Beweis führen, nämlich, dass er sich künftig trotz hängigen Strafverfahrens oder strafrechtlicher Verurteilung wegen eines Gefährdungs- oder Gewaltdelikts mit Sicherheit wohlverhalten werde. Kann eine seriöse Prognose eine künftige Gefährdung naturgemäss nicht ausschliessen, ist ein solcher Nachweis nicht zu führen. Die Unlogik des Bundesgerichts konsequent weitergedacht, könnte eine Prognose ganz unterbleiben, müsste doch jeder Versuch einer seriösen Prognose zum Ergebnis führen, dass eine künftige Gefährdung nicht ausgeschlossen werden kann.
In Erwägung 4.3 konkretisiert das Bundesgericht seine Auffassung wie folgt: «Bei gravierenden Gewaltdelikten brauchen keine vertieften Überlegungen über das künftige Wohlverhalten des Ausländers angestellt zu werden. Vielmehr ist mit Blick auf das Erfordernis rascher Entscheidung und den Schutz der Bevölkerung der Haftgrund von Art. 13a lit. e ANAG als gegeben zu erachten, es sei denn, aufgrund der konkreten Umstände könnten keine ernsthaften Zweifel daran bestehen, dass der Ausländer künftig Leib und Leben von Drittpersonen achten und sich den Behörden für die Durchführung der fremdenpolizeilichen Verfahren zur Verfügung stellen werde.»
Man fragt sich, welche «konkreten Umstände» vorliegen müssten, damit ein Wohlverhalten ohne ernsthafte Zweifel angenommen werden könnte. Das Bundesgericht schliesst die Übertragbarkeit einer strafrechtlichen Prognose im Zusammenhang mit der bedingten Entlassung aus, weil damit andere Zwecke verfolgt würden. Die Einholung eines Gefährlichkeitsgutachtens dürfte dem Gebot der raschen Entscheidung entgegenstehen. Somit bliebe dem Betroffenen nur übrig, sein künftiges Wohlverhalten zu beteuern. Dieser «Umstand» dürfte nie genügen, um ohne ernsthafte Zweifel eine künftige Gefährdung ausschliessen zu können.
Eine Analyse der Urteilserwägungen bringt mich zum Schluss, dass das Bundesgericht entweder die Widersprüchlichkeit seiner Argumentation gar nicht erkannte oder aber den Behörden bewusst einen Freipass zur Anwendung von Art. 13a lit. e ANAG geben wollte.
Peter Nideröst, Zürich, Rechtsanwalt des Beschwerdegegners
Rechtsschutz
Unentgeltlicher Rechtsbeistand im Vormundschaftsverfahren
Für den Antrag auf Umteilung der elterlichen Obhut vor den Vormundschaftsbehörden besteht Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand.
Sachverhalt:
Eine Frau, der die elterliche Obhut über ihre Tochter wegen Drogensucht und Instabilität entzogen worden war, verlangte bei der Vormundschaftsbehörde, ihr sei die entzogene Obhut wieder zu übertragen. Gleichzeitig stellte sie das Gesuch, ihr Anwalt sei als unentgeltlicher Rechtsvertreter zu bestellen. Die Vormundschaftsbehörde, das Bezirksamt Baden und das Obergericht des Kantons Aargau lehnten das Gesuch ab, erst die staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht hatte Erfolg.
Aus den Erwägungen:
2.2 [...] Grundsätzlich fällt die unentgeltliche Verbeiständung für jedes staatliche Verfahren in Betracht, in das der Gesuchsteller einbezogen wird oder das zur Wahrung seiner Rechte notwendig ist (BGE 128 I 225 E. 2.3 S. 227 mit Hinweisen). Die bedürftige Partei hat Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen. Droht das in Frage stehende Verfahren besonders stark in die Rechtsposition der betroffenen Person einzugreifen, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters grundsätzlich geboten, sonst nur dann, wenn zur relativen Schwere des Falles besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen wäre (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232; 125 V 32 E. 4b S. 35 f., mit Hinweisen).
3.1 Die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung hat das Obergericht mit der Begründung verneint, das Verfahren vor der Vormundschaftsbehörde und den vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden sei vergleichbar mit dem Verfahren vor den Betreibungs- und Konkursämtern und den betreibungsrechtlichen Aufsichtsbehörden. In beiden Fällen handle es sich um ein seiner Natur nach einfaches, von der Offizialmaxime beherrschtes Einparteienverfahren mit allenfalls weiteren Verfahrensbeteiligten. Für das Verfahren vor den Betreibungs- und Konkursämtern habe die unentgeltliche Rechtsvertretung stets ausser Frage gestanden und für das Beschwerdeverfahren sei festgestellt worden, dass ein strenger Massstab anzulegen und die Mitwirkung eines Rechtsanwalts in aller Regel nicht erforderlich sei.
Das müsse für das Verfahren vor der Vormundschaftsbehörde umso mehr gelten, als diese, anders als eine obere Aufsichtsbehörde, nicht endgültig entscheide und zudem, wie auch die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden, im Rahmen der Offizialmaxime dafür zu sorgen habe, dass keinem Verfahrensbeteiligten wegen Unbeholfenheit Nachteile erwüchsen. Hinzu komme, dass der Entscheid einer Vormundschaftsbehörde durch die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden in deren Doppelfunktion als Aufsichts- und Beschwerdeinstanzen in einem Beschwerdeverfahren selbst bei Verwirkung der Beschwerdefrist und auch ausserhalb eines solchen Verfahrens von Amtes wegen aufgehoben werden könne, wenn er als Verstoss gegen eine klare Gesetzesvorschrift oder einen Rechtsgrundsatz im wohlverstandenen Interesse des Massnahmebedürftigen nicht hingenommen werden könnte.
3.2 Die vom Obergericht erwähnte Untersuchungsmaxime und die angeführte Möglichkeit einer aufsichtsrechtlichen, von Amtes wegen anzuordnenden Aufhebung eines vormundschaftsbehördlichen Entscheids durch die Aufsichtsbehörden lassen eine anwaltliche Vertretung der am Verfahren Beteiligten nicht ohne weiteres als unnötig erscheinen (vgl. BGE 125 V 32 E. 4b S. 36): Das sachgerechte Anlegen eines jeden Verfahrens und dessen richtige Leitung erfordern von der Behörde eine umfassende Kenntnis der einschlägigen Rechtsfragen, geht es doch darum, die rechtserheblichen tatsächlichen Umstände einfliessen zu lassen.
Die Erfahrung zeigt, dass ein schlecht begonnenes Verfahren später nur sehr schwer in die richtige Bahn zu bringen ist. Abgesehen davon, dass die Untersuchungsmaxime allfällige Fehlleistungen der Behörde nicht zu verhindern vermag, ist zu bedenken, dass sie nicht unbegrenzt ist. Sie verpflichtet die Behörde zwar, von sich aus alle Elemente in Betracht zu ziehen, die entscheidwesentlich sind, und unabhängig von den Anträgen der Parteien Beweise zu erheben. Diese Pflicht entbindet die Beteiligten indessen nicht davon, durch Hinweise zum Sachverhalt oder Bezeichnung von Beweisen am Verfahren mitzuwirken (dazu BGE 128 III 411 E. 3.2.1 und 3.2.2 S. 412 ff.). An der in BGE 111 Ia 5 (E. 4 S. 9 f.) unter Hinweis auf die umfassende Beschwerdemöglichkeit geäusserten Auffassung, für das Verfahren zur Entziehung der elterlichen Gewalt vor der erstinstanzlichen vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde bestehe generell kein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, kann nicht festgehalten werden.
3.3 Der angefochtene Entscheid lässt sich sodann auch durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Verfahren vor den Betreibungsbehörden und den betreibungsrechtlichen Aufsichtsbehörden nicht stützen: Wohl wurde in BGE 122 I 8 (E. 2c S. 10) – unter Hinweis auf den Untersuchungsgrundsatz – festgehalten, die Mitwirkung eines Rechtsanwalts sei in aller Regel nicht erforderlich. Doch ist zu bedenken, dass sich diese Äusserung ausdrücklich auf die Ermittlung des pfändbaren Einkommens des Schuldners bezog, bei der die Betreibungsbehörden die massgebenden tatsächlichen Verhältnisse von Amtes wegen abzuklären haben und sich in der Tat nur selten anspruchsvolle Rechts- oder Tatfragen stellen. Der Auffassung des Obergerichts, das Gleiche treffe auch hier zu und es liege somit kein Fall vor, der eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung rechtfertige, ist nicht beizupflichten.
3.3.1 Das Bezirksamt Baden, auf dessen Entscheid vom 6. Januar 2004 sich das Obergericht beruft, hatte festgehalten, die Beschwerdeführerin habe in dem an die Vormundschaftsbehörde zu richtenden Rechtsbegehren auf Obhutszuweisung an sie die wesentlichen Änderungen ihrer persönlichen Verhältnisse vorzubringen und darzutun, dass keine Gefährdung des Kindeswohls bestehe. Die Vormundschaftsbehörde werde dann die als Voraussetzung für die Aufhebung des Gemeinderatsbeschlusses vom 3. Dezember 2001 behaupteten Verhältnisse von Amtes wegen zu prüfen und abzuklären haben. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin den durch ein solches Rechtsbegehren an sie gestellten Anforderungen intellektuell nicht gewachsen oder im eingeleiteten Verfahren aus irgendeinem anderen Grund überfordert sein könnte.
Sodann ist dem Beschluss des Gemeinderats A als Vormundschaftsbehörde vom 16. Juni 2003 zu entnehmen, dass der Beschwerdeführerin die elterliche Obhut wegen langjähriger instabiler Lebens- und Wohnsituation und wegen Drogenabhängigkeit entzogen worden war.
3.3.2 Die Frage, ob die Obhut über das Mädchen wieder der Beschwerdeführerin zugewiesen werden könne, ist heikel und vielschichtig. Ihre Beantwortung ist für die Beschwerdeführerin selbst, für das Kind und die Pflegemutter von erheblicher Bedeutung. Der für das Wohl des Kindes zu fällende Entscheid wird sehr stark in die persönliche Situation der Beschwerdeführerin als leiblicher Mutter eingreifen. Es ist für sie von grosser Wichtigkeit, dass im Verfahren die nach der Rechtsprechung entscheidwesentlichen Tatsachen vorgebracht und ins richtige Licht gerückt werden. Die bezirksamtliche Feststellung, die Beschwerdeführerin sei den Anforderungen, die das vor der Vormundschaftsbehörde hängige Verfahren an sie stelle, gewachsen, wird den gegebenen Umständen nicht gerecht. In Anbetracht der komplexen, von einem juristischen Laien nur sehr schwer überblickbaren Verhältnisse verbietet sich die Annahme, eine anwaltliche Vertretung sei für die Beschwerdeführerin nicht notwendig.
(Urteil 5P.182/2004/bnm des Bundesgerichts, II. Zivilabteilung vom 1. Juli 2004)