plädoyer: Das Bundesgericht sagte einmal, Einvernahmeprotokolle seien die Grundlage der Wahrheitssuche. Weshalb enthalten die Straf- und die Zivilprozessordnung trotzdem nur rudimentäre Vorschriften zur Protokollierung mit vielen «Kann»-Formulierungen? Will es die Justiz mit der Wahrheit nicht so genau nehmen?
Philipp Näpfli: Das Problem liegt vor allem in der Qualität der Einvernahmeprotokolle im Vorverfahren des Strafprozesses: Sie sind zu wenig genau. Insbesondere werden zum Teil Fragen nicht protokolliert und Antworten zusammengefasst wiedergegeben. Im Strafrecht spielt das Vorverfahren eine zentrale Rolle. Viel Arbeit wird bereits von der Polizei und der Staatsanwaltschaft gemacht. Als Richter müssen wir mit dem arbeiten, was wir von den Strafverfolgungsbehörden bekommen.
plädoyer: Im Strafrecht müssen bloss die «entscheidenden Fragen und Antworten» wörtlich protokolliert werden, im Zivilrecht bloss «der wesentliche Inhalt». Können Richter gestützt auf solch subjektive Protokolle ein sachgerechtes Urteil fällen?
Näpfli: Wenn in Art. 78 der StPO steht, es seien «die entscheidenden Fragen und Antworten» wörtlich zu protokollieren, müsste ich als einvernehmende Person ein Hellseher sein, um dieser Vorschrift gerecht zu werden. Ich müsste zum Voraus wissen, was entscheidend ist. Das ist gar nicht möglich. Für mich ist klar: Ein wortgetreues Protokoll ist bedeutend besser als bloss ein sinngetreues Protokoll. Ich bin dafür, dass man sämtliche Fragen und Vorhalte protokolliert und die jeweiligen Antworten dazu. Es sollten keine Zusammenfassungen von Aussagen gemacht werden. Und der Einvernehmende sollte die Einvernahme nicht in eigenen Worten formulieren.
Niklaus Ruckstuhl: Für Verwaltungsrichter ist die Situation noch unbefriedigender. Denn im Verwaltungsverfahren gibt es noch weniger Vorschriften zur Protokollierung. Geht es zum Beispiel im Ausländerrecht um den Widerruf einer Bewilligung, werden beim Migrationsamt die Befragungen von Personen durchgeführt, die noch weniger als Polizisten und Staatsanwälte geschult sind, was und wie man protokollieren soll.
plädoyer: Wo besteht Ihrer Ansicht nach der grösste Handlungsbedarf?
Ruckstuhl: Protokolle sind keine Originale, sondern bereits eine Übersetzung vom Schweizerdeutschen in die Schriftsprache – die Verschriftlichung also eine Übersetzung des mündlich Wiedergegebenen. Dabei geht schon einmal viel Authentisches verloren. Die Ausbildung der Protokollierenden ist mangelhaft: Ich habe den Eindruck, dass allgemein die Meinung vorherrscht, jeder könne protokollieren. Dazu brauche es keine besonderen Kenntnisse.
plädoyer: Mit dem neuen Strafprozess erhielten die Protokolle mehr Bedeutung. Eine Fehlentwicklung?
Ruckstuhl: Mit der neuen Strafprozessordnung wurde in vielen Kantonen die Unmittelbarkeit des Verfahrens abgebaut. Damit bekamen die Protokolle eine überragende Bedeutung. In den beiden Basler Kantonen behandelte man früher Protokolle aus den Vorverfahren als Orientierungshilfe, sonst brauchte man sie nicht wirklich. Man stellte auf das ab, was an der Hauptverhandlung gesagt wurde – vom Beschuldigten, von Zeugen, Auskunftspersonen oder Experten. Heute hängt man Beschuldigte an einzelnen Wörtern aus Protokollen auf, von denen man gar nicht weiss, ob sie dies je so gesagt haben oder ob es sich um die Interpretation des Protokollführers handelt.
plädoyer: Was machen Sie heute als Richter, wenn Sie von der Qualität eines Protokolls nicht überzeugt sind. Lösen Sie sich vom Wortlaut oder wiederholen Sie die Befragung?
Ruckstuhl: Meiner Meinung nach besteht die einzige Lösung darin, dass der Richter die Leute vorlädt, wenn das, was er wissen will, aus dem Protokoll nicht mit genügender Klarheit hervorgeht.
plädoyer: Es bestünde auch die Möglichkeit von Tonaufnahmen. Das wird in einigen Kantonen praktiziert.
Ruckstuhl: Auch dabei muss man aufpassen. Vor etwa zehn Jahren machte man in Basel einmal einen Versuch, Einvernahmen auf Tonband aufzunehmen und dann wortgetreu abzutippen. Das war unbrauchbar und unlesbar. Lässt man eine befragte Person einfach eine Viertelstunde plaudern, ist das inhaltlich oft sinnlos, weil die gestellte Frage nicht beantwortet wurde. Aufnehmen ist schon gut – aber dennoch bedarf die Befragung einer Schulung.
plädoyer: Es gibt viele Gerichte, die die Verhandlungen aufnehmen und zusätzlich ein sinngemässes Protokoll machen. Die Tonbandaufnahme dient nur zur allfälligen Abklärung von Unklarheiten. Eine gute Variante?
Näpfli: Ja. Das Problem sehe ich aber nicht unbedingt in der Hauptverhandlung, sondern im Vorverfahren. Wenn die klassische Behauptung eines Beschuldigten kommt, er sei während der Untersuchungshaft unter Druck gesetzt worden, kann ich das anhand eines rudimentären Protokolls nicht oder nur sehr schwer überprüfen. Kritisch ist vor allem die allererste Phase bei der Polizei oder bei der Staatsanwaltschaft. Hier besteht das Problem, dass eine Person vielleicht suggestiv befragt wurde und kein Anwalt anwesend war, der dies bemerkt hätte. Dies zu überprüfen ist aufgrund eines sinngemässen Protokolls äusserst schwierig: Es fehlt häufig ein Teil der Fragen und die Antworten werden zusammengefasst.
plädoyer: Was spricht dagegen, in dieser Phase Tonaufzeichnungen zu machen?
Näpfli: Nichts. Wenn bei der ersten Befragung kein Anwalt anwesend ist, sollten Ton- oder audiovisuelle Aufnahmen vorgeschrieben sein. Im angloamerikanischen Raum wird dies zum Teil praktiziert. In Australien ist dies sogar Pflicht bei der Einvernahme von Beschuldigten. So muss man später im Verfahren nicht darüber diskutieren, ob ein Beschuldigter unter Druck gesetzt wurde. In Australien ist dies kein Thema mehr. Solche Tonaufnahmen schützen nicht nur Beschuldigte, sondern auch die Einvernehmenden.
Ruckstuhl: Auch für mich stellt sich die Frage, ob man Einvernahmen nicht audiovisuell aufzeichnen sollte. Hohe Kosten würde dies nicht verursachen.
plädoyer: Was machen Sie als Richter, wenn ein Angeklagter sagt, er sei in der ersten Einvernahme durch einen Polizisten zu einer Aussage gedrängt worden?
Näpfli: Ich kann dies nur anhand der Indizien und der gesamten Umstände überprüfen. Indem ich zum Beispiel schaue, wie lange die Einvernahme dauerte, wer anwesend war oder welche Aussagen der Beschuldigte nachher gemacht hat. Eine Kontrolle anhand der audiovisuellen Aufzeichnung wäre für mich in dieser Situation aber wesentlich besser und einfacher.
plädoyer: Nadja Capus untersuchte im Rahmen eines Nationalfondsprojekts, wie unterschiedlich formulierte Protokolle mit gleichem Inhalt von Richtern aufgenommen werden. Sie stellte fest, dass die Richter den Protokollen je nach dem Stil einen anderen Informationsgehalt entnahmen. Wäre es besser, jede Frage und jede Antwort im Protokoll authentisch wiederzugeben?
Näpfli: Ja, auf jeden Fall. Nicht aber unbedingt in Dialektform. Wenn ein Bundesrichter ein Protokoll in Walliserdeutsch lesen müsste, würde er teilweise nicht viel verstehen. Aber man könnte wichtige spezifische Ausdrücke in Mundart protokollieren.
plädoyer: Laut Strafprozessordnung sind wesentliche Aussagen soweit möglich in der Sprache zu protokollieren, in der die einvernommene Person aussagte. Haben Sie das schon einmal erlebt?
Ruckstuhl: Kaum.
Näpfli: Gemäss der bundesrätlichen Botschaft sollte dies für die hier gängigen Sprachen gelten – also Italienisch, Spanisch, Französisch und Englisch. Das Problem ist offensichtlich: Wie soll ich als Richter wissen, was mein Serbokroatisch-Übersetzer von den Aussagen der Befragten als wichtig betrachtet hat und wie er dies tatsächlich übersetzt?
plädoyer: Weshalb finden sich bei den Vorschriften fürs Protokoll so viele «Kann»-Vorschriften? Eine rechtspolitische Überlegung? Oder wollten Bundesrat und Parlament den einzelnen Kantonen möglichst viel Spielraum lassen?
Ruckstuhl: Ich vermute, dass die Kantone Druck gegen zu restriktive Vorschriften machten, weil sie vor allem auf Polizeistufe nur über sehr rudimentär ausgebildete Leute verfügen. Hier besteht ein massiver Ausbildungsbedarf.
Näpfli: Einheitliche und präzise Vorschriften zur Protokollierung wurden der Vereinheitlichung der Strafprozessordnung geopfert. Dem Föderalismus zuliebe sollte jeder Kanton so weitermachen können, wie er es vorher tat. Das bestätigte mir der kürzlich verstorbene Nationalrat Daniel Vischer, der bei den Arbeiten zur Einführung der Schweizerischen Strafprozessordnung dabei war.
plädoyer: Gemäss Strafprozessordnung müssen heute nur die entscheidenden Fragen und Antworten wörtlich protokolliert werden. Was spricht gegen eine Verpflichtung, alle Aussagen wörtlich aufzuschreiben?
Näpfli: Meiner Meinung nach nichts. Die Fragen könnte man ebenfalls problemlos vollständig protokollieren. Wenn ein Befragter wirr antwortet, ist dies auch so zu protokollieren.
Ruckstuhl: Der Widerstand gegen das seriöse Protokollieren kommt daher, dass dann zwei Personen nötig wären: Jemand, der die Fragen stellt, die Antworten aufnimmt und sie für sich verarbeitet. Sowie jemand, der nichts anderes macht, als zu protokollieren. Es kann niemand gleichzeitig schreiben, Aussagen verarbeiten, überlegen, was relevant ist, und Folgefragen stellen. Es ist beispielsweise als Verteidiger fast nicht möglich, bei einer Zeugeneinvernahme die Fragen und die Antworten aufzuschreiben und auch noch zu überlegen, ob dies mit der Aktenlage übereinstimmt und wo man Ergänzungsfragen stellen muss. Das bedeutet: Es braucht zwei Leute – das ist vielen Kantonen mangels Personal zu viel Aufwand.
Näpfli: Bei uns im Wallis sind auf Stufe Polizei zumindest bei der Einvernahme des Beschuldigten grundsätzlich zwei Polizisten mit einer Einvernahme betraut.
Ruckstuhl: In Basel-Stadt und Baselland ist es fast immer nur eine Person, welche die Einvernahme durchführt und sie auch protokolliert. Gegen eine Verdoppelung der Personalkosten würden die Kantone bei der herrschenden Finanzknappheit heftig opponieren.
plädoyer: In Ihrer Dissertation berichten Sie, Herr Näpfli, von einem deutschen Experiment. Man verglich, wie Polizisten Zeugenaussagen aufschreiben. Resultat: 25 Prozent der Pro- tokolle enthielten nicht alle notwendigen Inhalte, 13 Pro- zent der Aufzeichnungen waren ganz falsch, 7 Prozent teilweise falsch. Die Fehler passierten nicht mutwillig, sondern aufgrund mangelnder Fähigkeiten. Was könnte man schon mit dem heutigen Personalbestand verbessern?
Ruckstuhl: Man müsste erstens vor allem das Vieraugenprinzip einführen. Dann würde eher auffallen, wenn etwas falsch protokolliert wird. Zweitens sollte man vorschreiben, dass jede Frage und Antwort gleich vorgelesen werden, nachdem die Aussage protokolliert wurde, und dass man den Inhalt sofort bereinigen muss. Also nicht erst am Schluss nach drei, vier Stunden Einvernahme. Als Verteidiger schreibe ich heute alle Einvernahmen von Hand fast wörtlich mit, damit ich am Ende weiss, was mein Mandant genau gesagt hat und wo ich Korrekturen des Protokolls begründet verlangen kann. Das Vieraugenprinzip wäre im Übrigen nicht nur auf Seiten der Befrager, sondern auch auf Seiten der Befragten wünschenswert. Dann hätte man die Bestätigung eines Dritten, der auf der Seite des Beschuldigten oder des Zeugen steht, der unterschriftlich bestätigen würde, dass alles korrekt ablief.
Näpfli: Zum Vieraugenprinzip auf Seiten des Beschuldigten gehört meiner Meinung nach, dass ein Anwalt das Protokoll am Schluss zusammen mit dem Einvernommenen durchliest. Es genügt nicht, dass nur der Beschuldigte das Protokoll nochmals liest. 16 Prozent der 16- bis 65-jährigen Schweizer Bevölkerung stellt das Lesen selbst eines sehr einfachen Textes vor unüberwindbare Verständnisprobleme. Das zeigen die Untersuchungen über den Illetrismus in der Schweiz.
plädoyer: Auch die Pisa-Studie zeigt, dass viele Junge Mühe mit dem Verstehen eines einfachen kurzen Textes haben. Müssten nicht schon die Fragen der Einvernehmenden auf diese verbreitete Schwäche Rücksicht nehmen? Viele Leute schämen sich zu sagen, wenn sie etwas nicht verstehen.
Näpfli: Die Fragen sollten sich am Horizont des Empfängers orientieren. Polizisten, Staatsanwälte und Richter müssen die Fragen ihrem Gegenüber anpassen. Sonst ist das Verfahren unfair.
plädoyer: Weshalb sind wir in der Rechtswirklichkeit so weit von einer besseren Protokollierung entfernt?
Näpfli: Rund 80 Prozent der Sachverhaltsfragen werden mit dem Personalbeweis geführt. Wenn einer meint, der Personalbeweis sei nicht wichtig, dann nimmt er seine Sache nicht ernst. Ich erkläre mir den jetzigen Zustand mit einem gewissen Konservatismus aller Beteiligten. Auch ist es wohl bequem, zu sagen, Verbesserungen seien nicht praktikabel. Tatsache ist: Wenn einmal Räume für Video- oder Tonbandaufnahmen ausgestattet sind, gibt es keine praktischen Probleme mehr. Ich finde es immer gut, wenn ich als Richter neben der Zusammenfassung des Protokolls das Video anschauen kann. Es gibt einen viel persönlicheren und direkteren Eindruck.
Ruckstuhl: Unbestritten ist auch, dass der Personalbeweis der unsicherste Beweis aller Beweise ist. Man sagte sich schon in Zeiten der Inquisition: Wenn man ein Geständnis hat, ist man auf der sicheren Seite. Deshalb hat man immer daraufhin gearbeitet.
plädoyer: Verlangt heute ein Beschuldigter eine Berichtigung des Protokolls, entscheidet der Protokollführer selbst, ob er einen Fehler gemacht hat und das Protokoll ändern will. Ist eine solche Einmannjustiz eines Rechtsstaats überhaupt würdig?
Ruckstuhl: Theoretisch könnte der Beschuldigte nachher noch eine Protokollberichtigungsbeschwerde an die Oberinstanz machen, wenn er mit der Berichtigung abblitzt. Das macht aber kein Mensch. Als Verteidiger verlange ich sofort eine Berichtigung. Wenn sie nicht ausgeführt wird, verlange ich, dass protokolliert wird, was ich berichtigt haben möchte. Eine andere Variante: Ich weigere mich, zu unterschreiben, und sage, das Protokoll stimme nicht mit dem überein, was in der Einvernahme gesagt worden sei. Das ist weniger aufwendig als eine siebenseitige Protokollberichtigungsklage.
plädoyer: Die Prozessordnungen kennen bei ungenügenden Protokollen keine Sanktionen. Müsste man lückenhafte Protokolle einem Verwertungsverbot unterstellen?
Ruckstuhl: Nach heutigem Recht gibt es nur im Fall einer Täuschung oder einer Drohung ein Verwertungsverbot. Der Streit geht in der Regel darum, ob das Protokoll unsorgfältig ist oder nicht. Entweder müsste man sagen, das Protokoll ist unsorgfältig, also kann es auch nicht verwertet werden. Oder es müsste bereits reichen, dass Uneinigkeit darüber besteht, ob das Protokoll korrekt ist oder nicht, dass man es nicht verwerten kann. Dieser Grundentscheid müsste zunächst einmal getroffen werden.
Näpfli: In der Realität sind solche Auseinandersetzungen sehr selten. Schlechte Protokolle können bestritten werden – aber sie sind in den Akten drin. Ich kenne keine Einvernahme, die wegen angeblichen Mängeln bei der Abfassung des Protokolls aus den Akten gewiesen wurde. Im Kern geht es um die Frage der freien Beweiswürdigung durch das Gericht. Ich bin überzeugt, dass Richter durchaus derart mangelhafte Protokolle würdigen können.
Ruckstuhl: Wenn der Anwalt das Protokoll nicht unterschreibt, muss sich der Richter fragen, ob er es trotzdem verwerten kann. Ich erlebte schon, dass im Protokoll die Anfangs- und Schlusszeit der Einvernahme stand. Ich sah, dass die Einvernahme zwei Stunden dauerte. Es lagen aber nur eineinhalb Seiten Protokoll vor. Dass da noch mehr passiert ist, als auf diesen eineinhalb Seiten stand, war klar. Da gibt es durchaus Richter, die in einem solchen Protokoll kein verlässliches Beweismittel sehen.
Näpfli: Ein klassischer Fall liegt auch vor, wenn zwei, drei Fragen gestellt werden und der Einvernommene sagt, ich sage nichts mehr aus. Dann kommt es zu einer Pause, nachher wird mit der Befragung weitergefahren. Dann heisst es: «Nachdem ich mir das noch einmal überlegt habe, möchte ich Folgendes aussagen.» Dann folgt allenfalls das Geständnis. Ein solches Protokoll muss man hinterfragen.
plädoyer: Wenn man Ihnen zuhört, spricht aus richterlicher Sicht alles für mehr Unmittelbarkeit im Verfahren. Richtig?
Näpfli: Da bin ich dagegen. Wenn jeder seine Arbeit sorgfältig machen würde und man die Einvernahmen aufnehmen würde, müsste man an der Hauptverhandlung nicht noch einmal alles durchgehen – umso mehr, da zwischen Ersteinvernahme und Hauptverhandlung mehrere Monate oder sogar Jahre vergehen können. Damit ist eine Aussage an der Hauptverhandlung nur sehr eingeschränkt relevant, weil der Mensch nun einmal in einem solch langen Zeitraum viele Details vergisst.
Ruckstuhl: Als Verteidiger befürworte ich die Unmittelbarkeit im Verfahren. Mehr Unmittelbarkeit in der Hauptverhandlung, vor allem was Drittbeweismittel angeht, finde ich wichtig.
plädoyer: Welche Vorschriften in der Zivil- und Strafprozessordnung würden Sie in einer Revision abändern? Würden Sie den Kantonen genauer vorschreiben, wie sie protokollieren müssen?
Ruckstuhl: Das würde ich auf jeden Fall. Ich würde vorschreiben, dass jede Frage und Antwort protokolliert, vorgelesen und dann bereinigt werden muss. Das Protokoll im Nachhinein durchzulesen und zu bereinigen, halte ich für einen Witz. Zudem würde ich das Vieraugenprinzip vorschreiben. Und dass man sicherheitshalber zumindest Tonaufnahmen macht, um im Zweifelsfall zu kontrollieren, was genau gesagt wurde. Bei gewissen Einvernahmen, zum Beispiel bei Vieraugendelikten, müsste man die Aussage des Opfers oder der geschädigten Person auch auf Video aufnehmen.
Näpfli: Ich bin für neutrale Protokollführer. Solche gab es in den USA. Sie führten die Protokolle und hatten von der Sache grundsätzlich keine Ahnung. Ich bin nur in einem Punkt anderer Meinung als Herr Ruckstuhl: Wenn permanent jede Frage und Antwort direkt dem Einvernommenen zur Kontrolle vorgelegt wird, wäre die Einvernahme fast nicht mehr durchführbar. Vor allem, wenn es um eine Konfrontationseinvernahme geht, an der mehrere Beschuldigte mit ihren Anwälten anwesend sind. Wenn die Protokollführung auf Diktat erfolgt und es nicht um einen speziellen Fall geht, kann man die Kontrolle nach jeder Frage machen. Wichtig scheint mir: Im Gesetz müsste stehen, wie die Erstellung von Einvernahmeprotokollen abzulaufen hat. Die «Kann»-Vorschriften müssten durch «Muss»-Vorschriften ersetzt werden.
Philipp Näpfli, 51, seit 2005 Bezirksrichter am Bezirksgericht Brig VS, seit März 2009 Präsident. Von 2002 bis 2004 Untersuchungsrichter für das Oberwallis in Visp, von 2004 bis 2013 Ersatzrichter am Kantonsgericht Wallis. Näpfli schrieb 2007 seine Dissertation zum Protokoll im Strafprozess.
Niklaus Ruckstuhl, 58, seit 1994 selbständiger Anwalt in Allschwil BL und Titularprofessor für Strafprozessrecht an der Universität Basel. Seit 2004 ist er ausserdem Richter am Kantonsgericht des Kantons Basel-Landschaft in der Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht.