Im japanischen Fischerstädtchen Himi wurde 2002 der Taxifahrer Hiroshi Yanagihara wegen Vergewaltigung und versuchter Vergewaltigung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Der 35-Jährige hatte im Polizeiverhör ein Geständnis unterschrieben. Später beteuerte er seine Unschuld, er hatte ein Alibi. Das Gericht jedoch stützte sich auf das falsche Geständnis und verurteilte ihn.
In Japan gilt ein Geständnis – ob wahr oder falsch – als «König der Beweismittel». Über 90 Prozent aller Straftaten, welche die Gerichte beurteilen, werden von den Angeklagten nicht bestritten. Das trägt zu Japans absurd hoher Verurteilungsrate von 99,9 Prozent bei. Kein anderes Land spricht Angeklagte seltener frei, nicht einmal China – auch die früheren Sowjet-Diktaturen nicht.
Vier Jahre später, Taxifahrer Yanagihara hatte seine Strafe bereits verbüsst, gestand ein Serienvergewaltiger die zwei Fälle, die dem Taxifahrer angelastet worden waren. In einer Neuverhandlung sprach das gleiche Bezirksgericht, das ihn verurteilt hatte, den Unschuldigen frei.
Die Frage, wie es zum Fehlurteil kam, liessen die drei Richter im zweiten Verfahren nicht zu. Sie verweigerten der Verteidigung eine Vorladung der beiden Polizisten, die dem Taxifahrer das falsche Geständnis abgerungen hatten. Die Öffentlichkeit sollte nichts über die Methoden erfahren, mit denen sie das getan hatten. Taxifahrer Yanagihara beklagte sich bitter über die «Das-geht-uns-nichts-an»-Haltung der Richter ihm gegenüber.
Unschuldsvermutung gilt nach Verhaftung wenig
Erzwungene Geständnisse sind in Japan nicht selten. «Ich sage meinen Klienten immer, wenn sie etwas nicht getan haben, dürfen sie es unter keinen Umständen zugeben, auch unter Druck nicht», erzählt Asuka Imai, eine junge Anwältin in Sapporo. Da die Polizei oft Geständnisse erzwinge, zuweilen, bevor ein Verhafteter Kontakt zu einem Rechtsanwalt habe, fordert die Anwaltskammer, alle Verhöre müssten aufgezeichnet werden. Inzwischen geschehe das zwar öfter, aber noch längst nicht immer. Liege einmal ein unterschriebenes Geständnis vor, dann habe der Angeklagte, selbst wenn er es widerrufe, keine Chance auf einen Freispruch mehr.
Die japanische Gesellschaft legt grossen Wert auf die Privatsphäre. Wird indes jemand verhaftet, dann büsst er dieses Recht ein. Als ob die Polizei keine Fehler machen würde und es keine Unschuldsvermutung gäbe, publizieren die Medien Namen, Bild und oft sogar die Adresse und Arbeitsstelle Verhafteter. Solche Vorverurteilungen stossen potenziell Unschuldige aus der Gesellschaft aus. Das trägt dazu bei, dass sich die Japaner kaum an der hohen Verurteilungsrate stören. Wenn sie überhaupt davon wissen.
«Wenn ich einen Fall von Anfang an betreue, stelle ich sicher, dass mein Klient kein falsches Geständnis abgibt», sagt Tomomi Uraki, seit 2006 Anwältin und Mitglied der Strafverteidigerkommission der Tokioter Anwaltskammer. Aber auch sie betreute schon Fälle falscher Geständnisse, die sie etwa von Kollegen, einem Amtsverteidiger oder erst für die Berufung übernahm.
Staatsanwalt setzt Geständnis auf
Einem jungen Mann, der beschuldigt wurde, mit dem sogenannten Enkeltrick eine alte Frau um Geld betrogen zu haben, aber nichts mit dem Verbrechen zu tun hatte, drohte der Staatsanwalt, wenn er nicht gestehe, ziehe er seine Mutter und eine Freundin in die Untersuchung hinein. Unterschreibe er jedoch ein «zusammen mit dem Staatsanwalt aufgesetztes Geständnis», beantrage er eine mildere Strafe. Damit brach er den Widerstand des Jungen, er wurde verurteilt.
In Japan sind solche Händel verboten. Informell kommen sie jedoch sehr häufig vor. Sie verkürzen das Strafverfahren für alle: Der Angeklagte erhält eine mildere Strafe, seine Anwaltskosten verringern sich. Und der Ankläger ist «produktiv».
Anwältin Uraki vertrat den unschuldigen jungen Mann in der Berufung. Sie verlor. Gewiss frustriere sie das, seufzt sie. Und schweigt lange. «Sehr!» Zumal Strafverteidiger in Japan fast immer verlieren.
Japans Staatsanwälte können frei entscheiden, welche Fälle sie anklagen und welche sie fallen lassen. Gemäss einer Studie der Harvard-Professoren Marc Ramseyer und Eric Rasmusen bringen sie selbst die Mehrheit aller Morde nie vor Gericht. Lieber lassen sie einen Täter laufen, als das Risiko einzugehen, einen Prozess zu verlieren. Das beeinflusst auch die Arbeit der Verteidiger. Sie versuchen, ihre Fälle mit schriftlichen Eingaben kompliziert und unberechenbar zu machen, um den Staatsanwalt zum Aufgeben zu bringen, so Uraki.
Ramseyer und Rasmusen erklären die hohe Zahl der Fälle, die nicht weiterverfolgt würden, mit einer personellen und finanziellen Unterversorgung der Strafverfolgung. Im Gegensatz dazu werde die Polizei grosszügig ausgestattet. So optimiere der Staat die «Produktivität der Staatsanwaltschaft».
Besonders zum Jahresende, so berichten manche Juristen, räumen die Staatsanwälte ihre Schreibtische auf und schliessen viele Dossiers. Die Chance eines Verdächtigen verbessere sich deshalb erheblich, wenn es seinem Verteidiger gelinge, den Fall bis Neujahr mit Eingaben zu verschleppen. Aber offiziell sei das natürlich nicht so.
In Japan dauern komplexe Strafprozesse nur einen Tag, einfachere oft bloss 45 Minuten. Das meiste ist vorab schriftlich erledigt worden. Das soll das Verfahren abkürzen, aber es macht die Rechtsfindung undurchsichtig. Prozesse, die sich über mehrere Sitzungen hinziehen, werden nicht an aufeinanderfolgenden Tagen verhandelt, sondern in grossen Zeitabständen. Dazwischen kämpfen die Parteien mit schriftlichen Eingaben.
Ein ganzes Arbeitsleben lang im Justizapparat
Staatsanwaltschaft und Gerichte sind in Japan hermetische Bürokratien. Wer nach dem Jus- Studium als Anfänger zur Staatsanwaltschaft geht, bleibt sein Leben lang dort. Studienabgänger, die ihre erste Stelle am Gericht erhalten, werden das ganze Arbeitsleben Richter sein.
Sowohl den Anklägern wie den Richtern weist jeweils eine zentrale Personalbehörde in Tokio die Stellen zu. Alle paar Jahre werden sie auf neue Posten verschoben. Staatsanwälte, die einen Prozess verloren haben, werden oft in unbeliebte Provinzstädte versetzt. Auch ein Richter, der ein Urteil von der höheren Instanz revidiert sieht, muss mit einem Karriereknick rechnen – vor allem, wenn es ein Freispruch war, wie Ramseyer und Rasmusen bestätigen.
Anwältin Tomomi Uraki glaubt: «Die Richter fürchten eher, einen Schuldigen freizusprechen, als Unschuldige zu verurteilen. Der Rechtsgrundsatz ‹im Zweifel für den Angeklagten› gilt in der japanischen Realität nicht.» Die Richter konzentrierten sich darauf, Urteile zu verfassen, die vor der höheren Instanz bestehen, das Leben des Angeklagten ist ihnen egal.
Vor einigen Jahren führte Japan die 1943 abgeschafften Geschworenengerichte wieder ein. «Das gibt dem Prozess etwas mehr Gewicht, schriftliche Eingaben verlieren an Bedeutung», so Uraki. Die Verurteilungsrate hat sich aber kaum reduziert. Gemäss Gesetz finden sechs Laien-Geschworene und drei Richter gemeinsam das «korrekte Urteil». Können sie sich nicht einigen, gilt der Mehrheitsbeschluss. Die um ihre Karriere besorgten beamteten Richter müssen also nur zwei Geschworene überzeugen.