Das Bundesgericht hat zwar allgemeine Grundsätze aufgestellt, auf die es in seinen Urteilen zum nachehelichen Unterhalt regelmässig hinweist. Diese Grundsätze sind jedoch meist so allgemein gehalten, dass sie in der täglichen Praxis kaum grosse Entscheidhilfen darstellen. Gerne verweist das Bundesgericht auf das weite Ermessen der Vorinstanzen oder nutzt seine Möglichkeiten der formalen Prozesserledigung, indem es den Parteien eine ungenügende Begründung der Berufung oder fehlende Behauptungen vor den Vorinstanzen vorwirft.1
Die Rechtsunsicherheit geht auf die Reform des Scheidungsrechts zurück. Im alten Recht gab es - zwar zu Recht kritisierte - aber immerhin klare Vorgaben: Beim Nachweis von ehewidrigen Handlungen, die also die Ehe als Vertrag verletzten, wurde eine Rente als eine Art Schadenersatz zugesprochen. Andernfalls bloss eine Bedürftigkeitsrente, deren Betrag auf 120 Prozent des familienrechtlichen Existenzminimums begrenzt war. Im neuen Scheidungsrecht ist der Unterhaltsbeitrag nicht mehr vom Nachweis eines Verschuldens oder einer Vertragsverletzung abhängig, und es gibt keine Vorgaben zum Betrag mehr, weder gegen unten noch gegen oben.2
Nach neuem Recht wird Scheidungsunterhalt vor allem nach lebensprägenden Ehen gesprochen. Falls eine Ehe als lebensprägend gewertet wird, besteht ein Anspruch auf Beibehaltung des ehelichen Lebensstandards, während bei nicht lebensprägenden Ehen an den Lebensstandard vor der Ehe angeknüpft wird.3 Ausnahmsweise ist laut Bundesgericht bei einer nicht lebensprägenden Ehe ein «Eheschaden» zu vergüten. Falls ein Unterhaltsbeitrag gesprochen werde, müsse dieser aber auch im Verhältnis zur Ehedauer angemessen sein. Wer seine Erwerbstätigkeit aufgibt, gehe auch bei übereinstimmender Lebensplanung in der Ehe ein persönliches Risiko ein, das nicht einfach auf den andern Ehegatten überwälzt werden könne. Grundsätzlich fraglich ist, auf welche Rechtsgrundlage ein solcher «Schadenersatz» gestützt werden soll. Immerhin handelt es sich um einen Schadenersatz ohne Vertragsverletzung, mithin müsste angenommen werden, die Ehe begründe eine Kausalhaftung. In der Praxis spielt dies häufig keine Rolle, weil meistens davon auszugehen ist, dass ein Ehegatte nach kurzer Ehedauer seine voreheliche Erwerbstätigkeit wieder aufnehmen kann.
Bei lebensprägenden Ehen sei - so das Bundesgericht - das Vertrauen des ansprechenden Ehegatten auf Fortführung der Ehe und auf den Weiterbestand der bisherigen, frei vereinbarten Aufgabenteilung objektiv schützenswert.4 Als lebensprägend betrachtet werden im allgemeinen Ehen von zehn oder mehr Jahren Dauer sowie unabhängig von ihrer Dauer Ehen, aus denen Kinder hervorgegangen sind. Bei einer Ehedauer zwischen fünf und zehn Jahren spielt keine eigentliche Vermutung; vielmehr kommt es darauf an, ob die tatsächlichen Umstände die Lebensverhältnisse der Ehegatten nachhaltig geprägt haben. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn eine Ehefrau in fortgeschrittenem Alter ihre Erwerbstätigkeit zwecks Haushaltführung aufgibt und sich der Ehemann darüber im Klaren sein muss, dass er die ökonomischen Konsequenzen dieser klassischen Rollenteilung zu tragen hat.5
1. Differenzierung nach Grund
In den oft formelhaft wiedergegebenen Prinzipien der Rechtsprechung zum Unterhalt bei lebensprägenden Ehen fehlt fast immer das begrenzende Element. Der Anspruch auf Aufrechterhaltung der ehelichen Lebenshaltung ist in aller Regel zeitlich limitiert. Eine kurze, wegen der Kinderbetreuung jedoch lebensprägende Ehe junger Ehegatten begründet selbstredend keinen Anspruch auf Unterhaltsbeiträge bis zur Pensionierung.
Untere Instanzen führen jedoch oft ihre eigenen rigiden Begrenzungen ein, indem sie die Unterhaltsbeiträge an die Mutter dann enden lassen, wenn das jüngste Kind das 16. Altersjahr zurückgelegt hat.6 Dies ist klar falsch, denn diese Alterslimite führt nur zur Erhöhung der Eigenversorgungskapazität, nicht jedoch per se zur Beendigung der Unterhaltspflicht. Stets ist daran zu denken, dass der während der Ehe gelebte Lebensstandard unter Umständen nur mit einem Aufstockungsunterhalt gehalten werden kann. Es bleibt somit unabhängig von der Eigenversorgungskapazität die Frage, ob und wann der Anspruch auf Erhaltung des ehelichen Lebensstandards durch Unterhaltsbeiträge endet.
Das Gesetz bringt die Begrenzung der Unterhaltspflicht mit dem Begriff des angemessenen Beitrags in Art. 125 Abs. 1 ZGB zum Ausdruck. Entscheidendes Kriterium für den Aufstockungsunterhalt, aber auch für andere Unterhaltsarten, muss die Dauer der Ehe sein (Art. 125 Abs. 2 Ziff. 2 ZGB). Alle andern Kriterien von Art. 125 Abs. 2 ZGB sind ausschlaggebend für die Beantwortung der Frage, ob überhaupt ein Anspruch auf Unterhaltsbeiträge besteht. Sie haben alle mit der Eigenversorgungskapazität oder der Bestimmung des gebührenden Unterhalts zu tun und sind nicht hilfreich, um zu bestimmen, wie lange Unterhaltszahlungen geleistet werden müssen und ob Anspruch auf Beibehaltung der ehelichen Lebenshaltung besteht.
Höhe und Dauer der Unterhaltsbeiträge müssen in Abhängigkeit zum Grund, weshalb eine Unterhaltspflicht besteht, gesehen werden. Beim Betreuungsunterhalt ist klar, dass der Anspruch auf die während der Ehe zuletzt gelebte Lebenshaltung in der Regel so lange besteht, wie die Betreuungspflichten die Eigenversorgungskapazität herabsetzen. Ob ein Aufstockungsunterhalt nach dem Ende der Betreuungsphase zu leisten ist, hängt von der Ehedauer ab und ist jedenfalls nur zu bejahen, wenn diese die Zehnjahresgrenze zur langdauernden Ehe überschritten hat.
Es ist mit Hausheer7 festzuhalten, dass mit der Unterscheidung zwischen lebensprägender und nicht lebensprägender Ehe noch nicht über die Unterhaltsdauer entschieden ist. Mit der Feststellung einer lebensprägenden Ehe ist nicht auch automatisch ein lebenslanger (oder bis zum AHV-Alter dauernder) nachehelicher Unterhalt im Umfang der in der Ehe zuletzt gelebten Lebenshaltung garantiert.8
Die gleichen Grundsätze sind auch auf den Aufgabenteilungsunterhalt anwendbar, der dann zum Zuge kommt, wenn die Aufgabenteilung in der Ehe irreversible Folgen zeitigt. Hausheer/Spycher ziehen die Grenze, ab der «der Vertrauensschutz ganz in den Vordergrund» rückt, bei zwanzig Ehejahren.9 Ab dann ist in der Regel von einem Anspruch auf dauerhafte Beibehaltung des ehelichen Lebensstandards auch nach der Scheidung auszugehen.
Grössere Zurückhaltung ist in allen Fällen geboten, wo die Unterhaltspflicht nicht Folge von Betreuungspflichten oder der Aufgabenteilung in der Ehe ist, sondern allein mit der nachehelichen Solidarität begründet wird. Es betrifft dies Fälle, in denen die Eigenversorgungskapazität durch Krankheit oder Alter eingeschränkt oder aufgehoben ist, aber auch Ehegatten mit - nicht ehebedingt - unterschiedlichen Einkommen. Hier muss der Unterhaltsbeitrag in Dauer und Höhe von der Ehedauer abhängig gemacht werden.
Das Kantonsgericht St. Gallen erwog in einem Urteil vom 17. August 2006, dass es nicht Aufgabe des Unterhaltsrechts sei, ein nicht ehebedingtes Einkommensgefälle auf Dauer zu nivellieren. Die ökonomischen Folgen eines allgemeinen Lebensrisikos könnten nicht einfach auf den früheren Partner abgewälzt werden.10 Wenn bei einer Ehedauer von zehn Jahren gerade die Schwelle zur lang dauernden Ehe überschritten wird, kann dies nicht einen Anspruch auf vollen Ausgleich der Lebensstandards bis zum Erreichen des Pensionsalters auslösen. Eine dreissigjährige Ehedauer hingegen vermag unter Umständen einen sogar über das Erreichen des Pensionsalters hinausgehenden, also lebenslangen Ausgleich zu rechtfertigen.
Nach Vetterli muss Solidarität auch nach einer dauerhaften Verbindung nur in beschränktem Umfang und für eine begrenzte Zeit geübt werden, weil allgemeine Lebensrisiken nicht beliebig privatisiert werden können. Der Solidarunterhalt soll deshalb nach dem Muster der früheren Bedürftigkeitsrente einen um die Steuern erweiterten und mit einem prozentualen Zuschlag erhöhten Grundbedarf umfassen.11 Mit einer solchen betraglichen und zeitlichen Abstufung des Unterhaltsanspruchs wird dem Kriterium der Angemessenheit adäquat Rechnung getragen.
2. Nachteile der konkreten Methode
Ein wahres Minenfeld ist die betragsmässige Feststellung des ehelichen Lebensstandards. Für die sehr guten wirtschaftlichen Verhältnisse hat das Bundesgericht entschieden, dass jeweils die einstufig-konkrete Methode zur Anwendung kommen soll.12
Bei bescheidenen finanziellen Verhältnissen spielt die Frage, nach welcher Methode der gebührende Unterhalt bestimmt wird, keine praktische Rolle. Denn die trennungsbedingten Mehrkosten führen dazu, dass beiden Ehegatten nicht wesentlich mehr als der familienrechtliche Notbedarf verbleibt.
Bei den Fällen mit mittleren wirtschaftlichen Verhältnissen huldigt das Bundesgericht dem Methodenpluralismus.13 Allerdings ist die Rechtsprechung in diesem Punkt widersprüchlich. In seinem Urteil vom 27. August 200814 erklärte das Bundesgericht, die Bemessung des Unterhalts nach der Methode der Notbedarfsberechnung mit Überschussverteilung sei nur bei mittleren Familieneinkommen bis zirka 8000 oder 9000 Franken anwendbar. In einem Urteil vom 12. April 200615 führte es jedoch aus, dass monatliche Einkünfte von rund 9200 Franken erfahrungsgemäss gute, aber nicht derart gute wirtschaftliche Verhältnisse bedeuteten, dass im Falle einer Familie mit zwei Kindern erhebliche Ersparnisse ermöglicht würden. Dennoch schützte es die vorinstanzliche Anwendung der einstufig-konkreten Methode. In einem Urteil vom 23. Juni 200816 hielt das Bundesgericht gar apodiktisch fest, die Überschussteilung sei für den nachehelichen Unterhalt unpassend. Würden die Unterhaltsbeiträge so festgesetzt, dass sich die Überschüsse der Parteien in etwa entsprächen, hätte die Scheidung mit Bezug auf das Unterhaltsrecht gar keine Folgen, vielmehr würden die Parteien in finanzieller Hinsicht lebenslang gleichgestellt. In BGE 137 III 102 hiess das Bundesgericht dagegen die vorinstanzliche Anwendung der Methode Notbedarfsberechnung mit Überschussverteilung gut, und dies bei einem Einkommen von rund 24 000 Franken allein des Ehemannes. Es begründete dies damit, dass keine ehelichen Ersparnisse behauptet worden seien, weshalb man annehmen müsse, dass das gesamte Einkommen für den Lebensunterhalt ausgegeben worden sei.
In vielen Fällen ist die Wahl der Methode entscheidend dafür, ob und in welcher Höhe Anspruch auf Unterhalt besteht. Die einstufig-konkrete Methode auferlegt die Beweislast der ansprechenden Partei. Bei der Methode Notbedarfsberechnung mit Überschussverteilung wird die Beweislast dagegen auf die Unterhalt leistende Partei verschoben, da sie nachweisen muss, dass ein bestimmter Teil des Einkommens nicht für den Lebensunterhalt verwendet wurde, mithin eine sogenannte «Sparquote» bestand. Die Beweisführung ist in beiden Fällen schwierig. Ehegatten führen in aller Regel nicht Buch über ihre Ausgaben. Sie wissen meistens nicht genau, wie viel sie für Ferien, Kulturelles, Auswärtsessen etc. ausgeben. Und wenn sie es vielleicht noch wissen, verfügen sie nicht mehr über die nötigen Beweise.17
Umgekehrt ist auch eine effektiv existierende «Sparquote» nur sehr schwer nachweisbar. Häufig vermischt sich Eigengut mit Errungenschaft, Wertpapiere verändern sich im Wert, Bankunterlagen sind nicht mehr vorhanden. Der Begriff des Sparens ist zudem unscharf. Sicher gehören die private Altersvorsorge dazu oder auch Rückstellungen, um später einmal in Wohneigentum zu investieren. Werden hingegen Rückstellungen getätigt, damit sich die Ehegatten zu einem späteren Zeitpunkt eine grössere Anschaffung leisten können, handelt es sich eher um einen aufgeschobenen Konsum als um eine eigentliche Spartätigkeit. Es kann auch sein, dass in der Vergangenheit wegen der Ausgaben für die Kinder nicht gespart werden konnte, die Kinder aber im Zeitpunkt der Scheidung wirtschaftlich selbständig sind oder es demnächst werden. Eine Sparquote kann in solchen Fällen nicht nachgewiesen werden.18
So ist das praktische Resultat oft dies: Wer verpflichtet wird, seinen über die notwendigen Ausgaben hinausgehenden Lebensstandard zu beweisen, kann dies nicht oder nur teilweise. Und ebenso scheitert derjenige, der eine «Sparquote» nachweisen müsste. Wenn die Gerichte frei entscheiden können, welche Methode sie wählen, bedeutet dies nichts anderes, als dass die Beweislast in gleichgelagerten Fällen einmal der Unterhalt ansprechenden und einmal der verpflichteten Partei auferlegt wird. Geschieht dies ohne zum Voraus feststehende Kriterien, muss von Willkür gesprochen werden. In der Tat ist es so, dass die angewandte Methode von Kanton zu Kanton, ja von Gericht zu Gericht - und in grossen Gerichten sogar von Richter zu Richter - unterschiedlich ist. Dieser Zustand verletzt die Rechtsgleichheit.
Ein praktisches Beispiel: Ein zürcherisches Gericht sprach einer Ehefrau nach über zwanzigjähriger Ehedauer einen Unterhaltsbeitrag von nur gut 100 Franken bis zum AHV-Alter des Ehemannes zu, obwohl die Ehefrau während der Ehe die drei Kinder betreut hatte und nicht erwerbstätig war (sie hatte erst während der Trennungszeit eine Teilzeitstelle angenommen). Der Ehemann verdiente über 10 000 Franken. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Obergerichts des Kantons Zürich wandte das Gericht die einstufig-konkrete Methode an. Die Ehefrau musste also ihre Lebenshaltungskosten während des Zusammenlebens nachweisen. Nach Durchführung eines Beweisverfahrens legte das Gericht den gebührenden Unterhalt inklusive Vorsorgeunterhalt auf rund 4200 Franken fest (was bloss gut 300 Franken mehr als der familienrechtliche Notbedarf war), das Einkommen der Ehefrau (teilweise hypothetisch) auf rund 4100 Franken. Die Ehefrau hatte immerhin beweisen können, dass während des Zusammenlebens Ferien gemacht und manchmal auswärts gegessen wurde.19 Wäre die Notbedarf-/Überschuss-Berechnung angewandt worden, so hätte ein deutlich höherer Unterhaltsbeitrag resultiert. So aber wurde ein «gebührender Unterhalt» festgelegt, der sogar noch tiefer ausfiel als die frühere Bedürftigkeitsrente von 120 Prozent des familienrechtlichen Notbedarfs.
Dieses Beispiel ist alles andere als ein Einzelfall. Wird die einstufig-konkrete Methode in Verhältnissen mit mittleren Einkommen angewandt, so führt dies zu einer systematischen Benachteiligung der Unterhalt beanspruchenden Partei, also meistens der Ehefrauen. Dies ist unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit nicht zu vertreten.
Es ist deshalb zu fordern, dass einheitlich festgelegt wird, ab welchem Familieneinkommen die einstufig-konkrete Methode anzuwenden ist. Bei allen tieferen Einkommen sollte einheitlich die Methode Notbedarfsberechnung mit Überschussbeteiligung angewandt werden,20 weil so die Beweislast voraussehbar und einheitlich verteilt wird und weil so gerechtere Ergebnisse resultieren dürften. Die Überschussverteilung gibt genügend Flexibilität, um der Begrenzung auf den angemessenen Unterhaltsbeitrag gemäss Art. 125 Abs. 1 ZGB Rechnung zu tragen.
Nachdem das Bundesgericht bereits 2006 feststellte, dass eine vierköpfige Familie bei einem Familieneinkommen von gut 9000 Franken erfahrungsgemäss keine Ersparnisse machen könne,21 was im Sinne einer Vermutung heisst, dass das gesamte Einkommen für die Bestreitung der Lebenshaltungskosten aufgewendet wird, so könnte man heute die Schwelle bei rund 10 000 Franken ansetzen. Bei Ehen ohne Kinder wäre diese Schwelle herabzusetzen. Hinzuzurechnen wären die trennungs- oder scheidungsbedingten Mehrkosten. Unterhalb dieses Betrags wäre die Methode Notbedarfsberechnung mit Überschussverteilung anzuwenden, bei höheren Familieneinkommen die einstufig-konkrete Methode. Allerdings dürfte der Unterhaltsbeitrag nicht tiefer ausfallen, als wenn der Schwellenwert nicht überschritten würde und deshalb die Methode Notbedarfsberechnung mit Überschussverteilung angewandt würde.22
Die Beantwortung von zwei weiteren Fragen hat grossen Einfluss auf die Höhe des Unterhalts. Sie stellen sich, weil weder Einkommen noch Lebenshaltungskosten von Familien statisch sind. Die erste Frage lautet: Darf bei der Anwendung der Methode Notbedarfsberechnung mit Überschussverteilung das nach der Trennung neu erzielte Einkommen eines Ehegatten mitberücksichtigt werden, wenn der gebührende Unterhalt bestimmt wird? Diese Frage wurde vom Bundesgericht im Grundsatz negativ beantwortet.23 Das Bundesgericht argumentierte, dass dieses neue Einkommen keinen Einfluss auf die während der Ehe zuletzt, das heisst bis zur Auflösung des gemeinsamen Haushalts gelebte Lebenshaltung hatte.
In einem andern Urteil befand das Bundesgericht jedoch, dass, wenn eine Teilerwerbstätigkeit erst kurz vor der Trennung ausgedehnt wird, der dabei erzielte Lohn bei der Bestimmung der Lebenshaltung angerechnet werden dürfe, soweit diese Ausdehnung angesichts des Heranwachsens der Kinder zu erwarten war.24
Wie diese Urteile zeigen, sind die Grenzen fliessend. Offenbar muss die Ausweitung der Erwerbstätigkeit zumindest konkret geplant gewesen sein, damit sie noch einen Einfluss auf die Höhe des gebührenden Unterhalts nach der Scheidung haben kann. Die Konsequenz ist allerdings die, dass die finanziell stärkere Partei den Vorteil des erhöhten Gesamteinkommens allein für sich beanspruchen kann, während die ansprechende Partei nicht an der finanziellen Situation partizipiert, die sich durch ihr zusätzliches Einkommen verbessert hat. Zu fordern ist aber, dass das zusätzliche Einkommen zumindest insoweit nicht berücksichtigt wird, als damit lediglich die scheidungsbedingten Mehrkosten gedeckt werden.25
Die zweite Frage lautet: Wie sind die Mittel zu behandeln, die freigeworden sind, weil sich die Kinder wirtschaftlich verselbständigt haben? Gemäss Bundesgericht darf davon ausgegangen werden, dass diese zusätzlichen Mittel für die Ehegatten verwendet worden wären.26 Sie werden deshalb Teil der ehelichen Lebenshaltungskosten und erhöhen den gebührenden Unterhalt. Allerdings ist zu fordern, dass im Zeitpunkt der Scheidung bereits absehbar ist, welche Ausgaben der Kinder konkret entfallen.27
Die Methodenwahl stellt nur eine Triage dar. Bei der Methode Notbedarfsberechnung mit Überschussverteilung muss der Unterhaltspflichtige den Beweis erbringen können, dass entgegen der Vermutung eine Sparquote vorhanden war. Bei der einstufig-konkreten Methode kann von Seiten der unterhaltsberechtigten Partei nachgewiesen werden, dass nichts gespart, sondern das ganze verfügbare Einkommen für den Lebensunterhalt verbraucht wurde.
3. Unterhalt während Getrenntleben
Beim Unterhalt während des Getrenntlebens28 lässt sich oftmals eine gegenteilige Tendenz beobachten. Hier wird die unterhaltsberechtigte Partei häufig in einer nicht mehr begründbaren Art und Weise bevorzugt.
Grundsätzlich geht das Bundesgericht davon aus, dass die während der Ehe gelebte Aufgabenteilung auch nach einer Trennung fortgeführt werden kann. Eine Pflicht zur Aufnahme oder Ausdehnung einer Erwerbstätigkeit sei nur zu bejahen, wenn keine Möglichkeit besteht, auf eine während des gemeinsamen Haushalts gegebene Sparquote oder vorübergehend auf Vermögen29 zurückzugreifen. Im Scheidungsverfahren sei zusätzlich zu berücksichtigen, dass die vorsorglichen Massnahmen einen andern Zweck verfolgten als die Eheschutzmassnahmen. Nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Scheidungsprozesses werde eine Rückkehr zur gemeinsam vereinbarten Aufgabenteilung weder angestrebt, noch sei sie wahrscheinlich. Es könne deshalb vermehrt auf die bundesgerichtlichen Richtlinien zum Scheidungsunterhalt abgestellt werden.30 In Tat und Wahrheit ist die Wahrscheinlichkeit einer Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft auch in den meisten Eheschutzverfahren gering. Diesem Umstand trägt das Bundesgericht dadurch Rechnung, dass die Kriterien der Bemessung des nachehelichen Unterhalts schon im Eheschutz mitberücksichtigt werden müssen, wenn nicht ernsthaft mit der Wiedervereinigung gerechnet werden könne.31
Die Krux ist bloss, dass es an der nötigen Präzisierung mangelt, was diese «Mitberücksichtigung» der Kriterien des Scheidungsunterhalts konkret bedeutet und wann sie zur Anwendung kommt. Stossend erscheint es, bei Ehegatten ohne Betreuungspflichten eine Verpflichtung zur Aufnahme beziehungsweise Erhöhung einer tatsächlich möglichen Erwerbstätigkeit bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils zu negieren. Damit erfolgen Leistungen einseitig nur noch vom Unterhaltsverpflichteten, weil der vom andern Ehegatten während des Zusammenlebens in natura geleistete Beitrag an die ehelichen Lasten im Sinne von Art. 163 ZGB nach der Trennung entfällt.
Einige Gerichte bestimmen den Trennungsunterhalt in der Weise, dass sie ausgewiesene Kinderkosten wie zum Beispiel Kosten des Musikunterrichts beim Notbedarf einrechnen, den Überschuss im Verhältnis ein Drittel zu zwei Drittel aufteilen und schliesslich die Kinderzulagen gänzlich unberücksichtigt lassen. Ins Gewicht fällt zusätzlich noch der höhere Grundbetrag des alleinerziehenden Elternteils.32 Ein solches Vorgehen hat eine ungerechtfertigte Vorteilsakkumulation zugunsten der unterhaltsberechtigten Partei zur Folge. Richtigerweise müssen alle Elemente der Unterhaltsberechnung gesamthaft ein angemessenes Resultat ergeben.
Im Kanton Zürich beruht die Praxis einiger Gerichte, die Kinderzulagen in der Unterhaltsberechnung weder als Einkommen zu berücksichtigen noch als Faktor, der den Bedarf der Kinder reduziert, auf einem Entscheid des Obergerichts aus dem Jahr 1997.33 Dieser wurde ausdrücklich mit der hälftigen Überschussbeteiligung gerechtfertigt, welche es als Regel bei der Unterhaltsberechnung im Eheschutz bei Familien mit Kindern seit langem nicht mehr gibt.34 Gemäss Bundesgericht werden demgegenüber Kinder- und Ausbildungszulagen zwar nicht zum Einkommen des bezugsberechtigten Elternteils hinzugezählt; sie sind jedoch bei der Ermittlung des durch den Unterhaltsbeitrag zu deckenden Unterhalts vorweg in Abzug zu bringen.35
1 Heinz Hausheer, «Scheidungsunterhalt vor Bundesgericht: zwischen Willkürüberprüfung und Annahmeverfahren», in: ZBJV 2011, 355ff., mit illustrativen Beispielen aus der neuesten bundesgerichtlichen Praxis.
2 BGE 121 III 49.
3 Zur nicht lebensprägenden Ehe (in casu trotz sechs Jahren ehelichen Zusammenlebens): Urteil 5C.244/2006 vom 13.4.2007. Zu fragen sei, welche wirtschaftliche Stellung der Ehegatte im Scheidungszeitpunkt innehätte, wenn er die Ehe nicht eingegangen wäre.
4 BGE 135 III 59, E 4.1. Ein solcher Vertrauensschutz ist allerdings nicht unproblematisch, wie auch die tägliche Scheidungspraxis zeigt. Auf den Vertrauensschutz kann sich auch derjenige berufen, der den Vertrag willentlich nicht einhält, was als Singularität des Scheidungsrechts zu werten ist. Eher schon gerechtfertigt ist es, davon zu sprechen, dass die Ehe als Schicksalsgemeinschaft irreversible Fakten geschaffen hat, die vom wirtschaftlich leistungsfähigeren Ehegatten mitzutragen sind. In einzelnen Fällen mag dies zu ungerecht empfundenen Ergebnissen führen, was jedoch hinzunehmen ist, weil die einzige Alternative die Verschuldensprüfung wäre.
5 Urteil 5A_701/2007 vom 10.4.2008, E.4.
6 Oft unter dem zusätzlichen Hinweis auf das Prinzip des «Clean Break», welches jedoch für sich allein nichts aussagt, weil dieser Begriff im Unterhaltsrecht stets im Zusammenspiel mit der nachehelichen Solidarität zu sehen ist.
7 Heinz Hausheer, «Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 2010», ZBJV 2011, 691.
8 So auch BGE 137 III 102, 112.
9 Hausheer/Spycher, Handbuch des Unterhaltsrechts, Bern 2010, Rz. 05.156.
10 FamPra.ch 1/2007, 159.
11 Rolf Vetterli, «Zur Bemessung des nachehelichen Unterhalts - ein Klärungsversuch», AJP 2009, 579.
12 Urteil 5C.129/2001 vom 6.9.2001, E. 3a.
13 BGE 134 III 577, E 3; BGE 128 III 411, E 3.2.2.; Urteil 5A_384/2008 vom 21.10.2008, E. 4.2.3; Urteil 5A_340/2011 vom 7.9.2011.
14 Urteil 5A_288/2008vom 27.8.2008, E 5.4.
15 Urteil 5C.308/2005 vom 5. 4. 2006, E 3.1.3.
16 Urteil 5A_154/2008 vom 23.6.2008, E 2.2.1.
17 Wer seine Ausgaben vorzugsweise mit Kreditkarten bezahlt, hat die besseren Chancen als Barzahler, was wohl auch nicht gerade als sachgerecht bezeichnet werden kann.
18 Urteil 5A_340/2011 vom 7.9.2011, E 4.3.
19 Manchmal werden unrealistisch tiefe Werte eingesetzt, weil der Fehler gemacht wird, die nachgewiesenen Beträge für Familienferien und auswärtiges Essen nach Köpfen aufzuteilen. Damit wird die ansprechende Partei zusätzlich benachteiligt, denn Einzelferien sind teurer als der Pro-Kopf-Anteil von Familienferien.
20 Es gibt auch Gerichte, die pro forma die einstufig-konkrete Methode anwenden, diese dann aber durch grosszügige pauschale Zuschläge de facto unterlaufen und in die Methode mit Notbedarf/Überschussbeteiligung zurückverwandeln. Dies war auch im Fall von 5A_154/2008 so, bei dem der Grundbetrag verdoppelt wurde (E 2.2.3.). Im Urteil 5C.142/2006 vom 2.2.2007 des Bundesgerichts findet sich die Formulierung, in guten Verhältnissen würde der Notbedarf «üblicherweise» um 20 Prozent erhöht. Nach dem Urteil 5C.237/2006 vom 10.1.2007, E 2.4.1. soll bloss noch der Grundbetrag um 20 Prozent erhöht werden, was zur Folge hat, dass sich der gebührende Unterhalt nur noch relativ geringfügig vom familienrechtlichen Existenzminimum unterscheidet.
21 Urteil 5C.308/2005 vom 5. April 2006, E 3.1.3.
22 Aus Gründen fehlender Beweisbarkeit der Lebenshaltungskosten könnte sich ein solches, der Logik widersprechendes Resultat einstellen.
23 BGE 134 III 145, a. M. Sabine Aeschlimann in FamPra 2008, 396.
24 Urteil 5A_662/2009 vom 21.12.2009.
25 Wie auch bezüglich der trennungsbedingten Mehrkosten zunächst auf die Sparquote
zurückgegriffen wird, vgl. zum Beispiel Urteil 5P.231/2000 vom 12.1.2011, E 3a.
26 Urteil 5A_340/2011 vom 7.9.2011, E 4.3.
27 In solchen Konstellationen darf nicht von einem Vorrang des Ehegattenunterhalts gegenüber dem Unterhaltsanspruch des mündigen Kindes ausgegangen werden, weil der gebührende Unterhalt des ansprechenden Ehegatten nicht zulasten des zwar mündigen, aber noch in Ausbildung stehenden Kindes erhöht werden kann.
28 Die Trennungszeit ist nicht auf die zwei Jahre gemäss Art. 114 ZGB begrenzt, de facto ist die gesamte Dauer des Scheidungsverfahrens hinzuzuzählen.
29 Ob vor einer Ausweitung der Erwerbstätigkeit auch das Eigengutsvermögen verbraucht werden muss, geht aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht klar hervor.
30 BGE 130 III 537 E. 3.2.
31 Urteil 5A_649/2009 vom 23.2.2010, E. 3.2.1; das Bundesgericht nennt explizit die Kriterien von Art. 125 Abs. 2 ZGB und beschränkt ie Mitberücksichtigung nicht auf die Frage der Ausweitung der Erwerbstätigkeit.
32 Es gibt keine einleuchtende Erklärung dafür, dass die Lebenshaltungskosten eines alleinerziehenden Elternteils höher sein sollen als die einer alleinstehenden Person. Die Grundbeträge einer Alleinerziehenden und eines Kindes sind zusammen höher als der Grundbetrag eines Ehepaars!
33 ZR 1998 Nr. 10.
34 Gemäss BGE 126 III 8 ist die Nichtberücksichtigung der Anzahl Personen bei der Aufteilung des Freibetrags geradezu willkürlich.
35 Urteil 5A_272/2010 vom 30.11.2010, E. 4.2.3.