Die Gemeinde Brig-Glis gilt als wirtschaftliches Zentrum des deutschsprachigen Teils des Oberwallis und bezeichnet sich selbst als «Alpenstadt». Der Ort zählt rund 13 000 Einwohner, ein Parlament gibt es nicht, die politischen Weichen stellt neben dem mit sieben Personen besetzten Stadtrat die sogenannte Urversammlung.
Die Gemeinde hat auf Bundesebene viel Gewicht: Bundesrätin Viola Amherd (Mitte) stammt aus Brig-Glis, sie wirkte dort zwölf Jahre lang als Gemeindepräsidentin. In der Bundesstrafjustiz taucht der Name der Ortschaft ebenfalls immer wieder auf: Fifa-Präsident Gianni Infantino, dem die Bundesanwaltschaft seit Jahren einen beträchtlichen Teil ihrer Ressourcen widmet, hat seine Wurzeln ebenso in Brig-Glis wie sein Jugendfreund Rinaldo Arnold, Oberstaatsanwalt des Oberwallis. Die beiden nahmen an jenen ominösen unprotokollierten Treffen mit Bundesanwalt Michael Lauber teil, über die dieser schliesslich stolpern sollte.
Anwalt aus Brig soll Wahl eingefädelt haben
Am Bundesstrafgericht in Bellinzona wirkt Martin Stupf (Mitte) als Präsident der Strafkammer. Sein Heimatort: Brig-Glis. Und seit kurzem ist die Gemeinde auch in der siebenköpfigen Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft (AB-BA) vertreten, die den Bundesanwalt kontrollieren soll: Im Juni wurde der Walliser Kantonsrichter Lionel Seeberger (CVP Oberwallis) aus Brig-Glis als neues Mitglied des Gremiums gewählt. Es war eine aussergewöhnliche Wahl.
Eine Mehrheit der parlamentarischen Gerichtskommission, welche den Wahlgang zuhanden der Vereinigten Bundesversammlung vorbereitet hatte, schlug den parteilosen Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer vor. Eine Minderheit der Kommission, deren Vertreter der Mitte und dem SVP-Lager angehören, votierte hingegen für Seeberger. In der Bundesversammlung waren die Mehrheitsverhältnisse dann umgekehrt: Seeberger wurde mit 121 von 227 gültigen Stimmen gewählt. Sie stammten von der SVP, der Mitte und der FDP, in deren Reihen kurzfristig mehrere Vertreter umgeschwenkt waren. Schefer erhielt 106 Stimmen.
Speziell war im Zusammenhang mit dieser Personalie nicht nur, dass die Bundesversammlung dem Antrag der Kommissionsmehrheit nicht folgte, was höchst unüblich ist. Bemerkenswert war auch, dass überhaupt zwei Kandidaten vorgeschlagen wurden. Als «in der Tat etwas ausserordentlich» bezeichnete denn auch Nationalrat Lorenz Hess (Mitte, BE) den Vorgang, als er sich in der Ratsdebatte für eine Wahl des Kandidaten Seeberger aussprach.
Eingefädelt haben soll die Wahl derweil nicht Hess, sondern der Walliser Ständerat Beat Rieder. Der Mitte-Politiker ist Mitinhaber eines Anwaltsbüros in Brig-Glis. Rieder gehört der Gerichtskommission an und wird von Medien verschiedentlich als Strippenzieher und hartnäckiger Lobbyist für Walliser Anliegen bezeichnet.
Briefe an Parlamentarier aus dem Kanton
Die Basler Nationalrätin Sibel Arslan (Grüne), die wie Rieder der Gerichtskommission angehört, sprach nach der Wahl Seebergers von einem «Sieg der Walliser Lobby». Ihre Einschätzung begründet sie unter anderem mit dem Umstand, dass mehrere Walliser Parlamentarier – auch Vertreter des rot-grünen Lagers – vor der Wahl von verschiedenen Seiten angeschrieben und aufgefordert worden seien, für den Kandidaten Seeberger zu stimmen. «Da wurde massive Lobbyarbeit betrieben», sagt sie.
Die Gerichtskommission hatte die Stelle in der AB-BA im Winter 2021 ein erstes Mal ausgeschrieben. Die Subkommission war aber mit der Anzahl und der Qualität der eingegangenen Bewerbungen nicht zufrieden. Deshalb erfolgte die Ausschreibung ein zweites Mal.
Beat Rieder sagt auf Nachfrage, dass er Lionel Seeberger aufgrund seiner anwaltlichen Tätigkeit im Kanton Wallis kenne. Er habe ihm nicht zur Bewerbung um die AB-BA-Stelle geraten, ihm aber seine Stimme gegeben. «Ich sehe darin auch kein Problem. Wenn ich einen Kandidaten aus dem Kanton Wallis gut finde, ihn aber nicht mehr unterstützen dürfte, wäre ich fehl am Platz.»
Rieder verweist auf die Ausführungen von Nationalrat Hess anlässlich der Ratsdebatte. Dieser betonte, dass es weder um «politische noch um regionale Ränkespiele» gegangen sei und nur der Kandidat Seeberger die Kriterien der Ausschreibung erfüllt habe. Diese habe unter anderem «vertiefte Kenntnisse im Straf- und Strafprozessrecht» gefordert – Qualitäten, die dem Kandidaten Schefer trotz «beeindruckendem Curriculum Vitae» fehlen würden. Sich für einen Kandidaten zu entscheiden, der die Kriterien gemäss Ausschreibung erfülle, sei auch eine Frage der Glaubwürdigkeit der Gerichtskommission, so Hess.
Der Zuger Hanspeter Uster präsidierte die AB-BA bis Ende 2021 und kennt die Anforderungen an die Mitglieder des Gremiums. Die strafrechtliche Expertise sei in der Aufsichtsbehörde bereits gut abgedeckt, sagt er: mit dem Zürcher Strafrechtsprofessor Marc Thommen und dem Vertreter des Bundesstrafgerichts, Stefan Heimgartner. «Zudem betrifft ein Grossteil der Arbeit der AB-BA das Verwaltungsrecht, nicht allein das Strafrecht. Die Behörde führt ja nicht selbst Strafverfahren, sondern übt eine Aufsichtstätigkeit aus.»
Der emeritierte St. Galler Staatsrechtsprofessor Rainer Schweizer bezeichnet die Argumentation, Markus Schefer habe nicht ins Profil gepasst, als «an den Haaren herbeigezogen». Schefer habe Erfahrungen in der Justizaufsicht und sei ein «hervorragender Staatsrechtler» mit besten Kenntnissen der für die Strafjustiz zentralen Grund- und Menschenrechte. Schweizer vermutet andere Hintergründe. «Die Aufsichtsbehörde entwickelte über die Jahre Grundsätze der Prüfung und begann zunehmend professionell zu arbeiten. Vielleicht passte das nicht allen.»
Bundesstrafjustiz “hochgradig politisiert”
Die Bundesstrafjustiz ist seit Jahren Bühne politischer und zwischenmenschlicher Querelen: Bundesanwaltschaft und Aufsichtsbehörde kamen in der Fifa-Affäre nicht aus den Negativschlagzeilen heraus, wobei sich die Situation seit dem Rücktritt von Michael Lauber und seit der Wahl von Stephan Blättler zum neuen Bundesanwalt etwas beruhigt zu haben scheint. Das Bundesstrafgericht in Bellinzona hatte einen grösseren Fall von Mobbing in den eigenen Reihen aufzuarbeiten und rückte sich weiter ins Zwielicht, als es den ausserordentlichen Staatsanwalt Stefan Keller in einem politisch gefärbten Dreiergremium und mit einem zweifelhaften Entscheid in den Ausstand versetzte (plädoyer 4/2021). Immer noch zu reden gibt Olivier Thormann, der zuerst als Mitglied der Bundesanwaltschaft das Verfahren gegen die ehemaligen Fussballfunktionäre Sepp Blatter aus dem Oberwallis und den Franzosen Michel Platini leitete, selbst an einem nicht protokollierten Treffen mit Fifa-Präsident Infantino und Bundesanwalt Lauber teilgenommen haben soll und heute Richter am Bundesstrafgericht ist. Gegen ihn reichte Platinis Anwalt eine Strafanzeige wegen falscher Zeugenaussage und Amtsgeheimnisverletzung ein.
Gemäss dem Basler Strafrechtsexperten Mark Pieth trägt die Bundesstrafjustiz in ihrem aktuellen Zustand zum Bild der Schweiz als «Piratenhafen» bei. Dies vor allem auch, weil sie «hochgradig politisiert» sei. Die jüngsten Vorgänge rund um die Wahl in die AB-BA würden in dieses Bild passen. Ob es um Walliser Ränkespiele gegangen sei, ob die Causa Infantino und die Briger Herkunft des Kandidaten Seeberger effektiv eine Rolle gespielt hätten, könne er nicht beurteilen: «Aber die für die Wahl Verantwortlichen sind selbst schuld, wenn sie derartigen Gerüchten so viel Raum geben.»
Für die Bundesstrafjustiz gilt, was auch in Verfahren vor ihren Schranken gilt: Es genügt der Anschein von Befangenheit.
“Politische Kriterien, inkompetentes Personal”
Die Negativschlagzeilen über verschiedene Stellenbesetzungen in der eidgenössischen Justiz färbten auch auf das Parlament als Wahlgremium ab, jüngst zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Wahl des neuen Bundesanwalts. Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats reichte deshalb im Frühling 2021 eine Initiative ein. Künftig soll die Gerichtskommission einen Fachbeirat zur Begleitung ihrer Auswahlverfahren einsetzen und beiziehen können. Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats stimmte der Initiative im Sommer 2021 zu, der Vorstoss ist nun wieder beim Ständerat. Sowohl Beat Rieder (Mitte) als auch Sibel Arslan (Grüne), beide Mitglied der Gerichtskommission der Vereinigten Bundesversammlung, begrüssen die Stossrichtung der Initiative.
Strafrechtsexperte Mark Pieth fordert für Wahlen in die eidgenössische Justiz zusätzliche Vorkehrungen: «Aktuell wählt die Gerichtskommission zu sehr nach politischen Kriterien und entscheidet sich zum Teil für inkompetentes Personal». Sinnvoller als ein Beirat seien zusätzliche inhaltliche Anforderungen an Richter und andere Angehörige der Bundesjustiz. «Heute ist nicht einmal gesetzlich festgehalten, dass Kandidaten Juristen sein müssen.» Dies, so Pieth, sei jedoch das Mindesterfordernis. Je nach Stelle hält er zusätzliche Qualifikationen wie die Anwaltsprüfung für erforderlich.